Ein Mann steht am Fenster und …
„Das Erzählen beginnt, wenn die Geschichte zu Ende ist.“ – Und die Gegenwart wartet draußen, stoisch in ihrer Bürgerlichkeit, umnachtet wie der Mann, der den Zügen nachsah. Ich stehe am Fenster, rauche, und der Wind zerrt mitleidlos am vom Herbst versengten Grün. Sirenen schleudern ihr Blau umher, auf jener Straße, auf der ich oft die Stadt verlassen habe, Richtung Süden – bis zur Müllkippe, von der aus betrachtet der Fernsehturm weit weg und Gropiusstadt bedrohlich nahe scheinen.
„Ich hasse Kunst du auch?“, fragen mich jeden Tag die gelben Lettern am Fundament jenes Hauses, das mein Zuhause ist. – Ich schnippe meine Kippe in den Rachen der Nacht und denke an das Komma, das fehlt; denke, wer sich angesprochen fühlen soll, wenn das du klein ist. Ein kleiner Unterschied, ein wesentlicher; was schließlich sind denn dann Bilder ohne Worte, nach denen ich hier, vom Fenster aus, Ausschau halte, für meine Bilder, draußen im nächtlichen Blanko. – Ich habe mit Worten Bilder gezeichnet. Dieses Talent habe ich verloren, wie Freunde; weil nach der Jugend das Leben kam. – Nein, Bilder sollten mehr sagen, als ich ihnen andichten will: Ich sträube mich, sie in Konzepte zu korsettieren, ihnen blümerante Feigenblätter anzulegen.
Die Spaziergänge, die im Kopf Spuren hinterlassen haben, hatten kein Ziel; Spaziergänge, auf denen ich mich in eine befremdliche Gedankenlosigkeit gelaufen hatte. Und ich denke, dass mich eben das sensibilisierte für das, was andere nicht sahen. Das Photographieren wurde eine einsame Tätigkeit, in der dunklen Jahreszeit ein öde.
Meine Spaziergänge haben keinen Fokus; wann immer ich Wirklichkeit und ihr Abbild zu korrelieren versuche, wirken die Negative, verglichen mit meinen Vorstellungen, unscharf, vignettiert. Die besten Bilder waren „Entdeckungen“. Und ich denke, dass es gerade diese Momente sind – dieses wortlose Gefühl, etwas gefunden zu haben –, die ein Negativ mit dieser suspekten eigentümlichen Nuance kolorieren.
Wenn ich heute an das Schreiben denke, kann ich nicht sagen, warum ich es getan habe; und warum irgendwann nicht mehr. Wenn ich heute an das Photographieren denke, kann ich nichts anderes sagen. Woran ich mich erinnere: Mein Tagebuch revidierte sich im Laufe der Zeit; aus Sätzen wurden Worte wurden – ein Bild, das draußen lag. Berlin ist groß, wenn man Zeit hat und kein Paris, Prag oder Popayán sucht. Zwölf Negative zu belichten braucht Zeit, wenn man selbige übertrumpft. Und so sind meine Spaziergänge geworden wie das ad infinitum einer Seite B.
Alles dreht sich. Vielleicht darum das Quadrat; weil es keine Bewegung assoziiert; es ist solide. Was einen Kreis beschreibt – ob Figur, Gedanken oder Zeit –, schreitet, aber nicht immer einem entgegen. Was man verliert – das hat man verloren. Auch eine Uhr mit Ziffern ändert nichts.
Formate außerhalb des Quadrates überfordern mich. Auch wenn dieses Format – quasi – das angeborene ist. Und ich stelle mir vor, hier, am Fenster, mit einer weiteren Kippe in der Hand, die so viel gesagt hat, wie es wäre, Don Quijote oder Die Brüder Karamasow in einem Format zu lesen, der unserem gewohnten Blick ähnelt –. Das Horizontale ist eine Leserichtung, zumindest eine Geste. Es ist, als müsste ich mit der Zeit gehen. Darum sage ich lieber Photographie statt Fotografie.
Das Quadrat ist manifest; eine fast trotzige Geometrie inmitten eines zeitlichen, alles verzerrenden, Fluchtpunktes; seine Längen provozieren keine Richtung, keine Bewegung. Darin bleibt nur das Festhalten der Zeit, die sich als Schraffur der von ihr getriebenen Figuren zeitigt. Ich stehe am Fenster, halte Ausschau nach etwas, das meine Worte längst ersetzt hat. Ich möchte Bilder meiner Zeit hinterlassen. Das ist alles. – Ich habe das Gefühl, nichts gesagt zu haben. Aber wem soll ich schon etwas sagen? Der Mond ist heute voll und ich blau: „Das Erzählen beginnt, wenn die Geschichte zu Ende ist.“