30. August 2017 Lesezeit: ~5 Minuten

Star(r)ing – vom Anstarren und Angestarrtwerden

Im Februar 2015 traf ich Marcus. Völlig fasziniert stand ich hinter ihm im Rewe an der Kasse. Groß, schlank, gutaussehend – und so völlig anders. Sein Gesicht war von auffällig vielen kleineren, größeren und flächigen Muttermalen übersäht, die sich auch am Hals herunterzogen.

Vorsichtig versuchte ich, ihn zu beobachten, ohne zu offensichtlich zu starren. Ich wollte ihn unbedingt fotografieren. All meinen Mut aufbringend sprach ich ihn in letzter Sekunde auf dem Parkplatz an. Offen, ungeschminkt und mit viel Humor erzählte er mir eine Woche später von sich und seiner extrem seltenen Krankheit.

Damals haderte ich selbst stark mit mir selbst und meinem Körper: Eine leichte Epilepsie begleitete mich schon seit einigen Jahren, doch zu diesem Zeitpunkt ging es mir aufgrund neuer Medikamente nicht gut.

Männerportrait

Ich hatte das Gefühl, mich selbst und meinen Körper nicht mehr zu kennen. Diese neue Bekanntschaft half mir sehr, damit besser klar zu kommen und seine positive Art und Lebensfreude faszinieren und inspirieren mich bis heute.

Ein halbes Jahr später lernte ich Siratt kennen, den ich im Bus ansprach. Er ist ein ganz normaler Student, Mitte 20, offen, positiv und humorvoll. Er fällt optisch allerdings sofort auf, da er an Albinismus leidet. Sein auffälliges Aussehen ist für ihn eigentlich kein Problem, schlimm sind die mit der Krankheit einhergehenden Augenprobleme. Auch mit ihm machte ich Fotos.

Mann mit Narbe

Zwei Jahre später schließlich wollte ich das Thema in meiner Bachelorarbeit behandeln und mich mit dem Starren, körperlicher Individualität, Identität und dem Weg zur Akzeptanz beschäftigen. Ich wollte natürliche Portraits mit unspektakulärer Lichtsetzung und neutralem Hintergrund. Nichts sollte von dem Menschen und seiner Besonderheit ablenken und nach Aufmerksamkeit schreien. Er allein sollte auf die Betrachter*innen wirken.

Die meisten Bilder entstanden in meinem gemütlichen kleinen Wohnzimmer, einige aber auch bei den Menschen daheim. Manche der portraitierten Personen haben nur eine kleine Besonderheit, die sie nicht weiter stört oder beeinträchtigt, andere leiden unter einer schweren Krankheit und/oder Behinderungen unterschiedlichen Grades.

Verdeckter Akt

Es ist mir öfter passiert, dass ich mit dem Fokus mal nicht das Auge getroffen oder ich mich, trotz sorgfältiger Arbeit, auch mal in der Belichtungszeit vertan habe. Daher musste ich mich mehr als mir lieb war mit der Frage beschäftigen, was mir wichtiger ist: Schärfe und Fokus auf dem richtigen Punkt oder Ausdruck und Haltung?

Vor allem da ich vorhatte, die Bilder überlebensgroß auf 100 x 100 cm aufzuziehen, fiel mir dies besonders schwer. Letztlich entschied ich mich dafür, dass Schärfe zwar super, der Ausdruck mir aber wichtiger ist.

Ich wollte in meiner Arbeit aber nicht nur (statische) Fotos machen, sondern auch die persönlichen Geschichten dieser Menschen erzählen. Dazu führte ich teilweise sehr intime Gespräche, die bis zu zweieinhalb Stunden dauerten. In diesen Interviews konnte ich viel über die portraitieren Menschen erfahren:

Wie fühlt es sich an, wenn man mit Mitte 20 plötzlich all seine Haare verliert? Bewirkt diese Besonderheit ein negatives Gefühl oder kann es auch positiv sein? Wer oder was hat Dir geholfen, Deinen Körper zu akzeptieren? Wie hat sich Deine Erkrankung auf Dein Leben und Deine Identität ausgewirkt? Wie fühlt man sich, wenn man ständig angestarrt wird? Fühlst Du Dich schön?

Frau mit Perücke

Es gibt einen Moment, den ich nie vergessen werde. Als ich meinem Professor mein Thema vorgestellt habe, fragte er mich: „Wollen Sie sich das wirklich antun?“ Ich schätze, er hatte Angst, dass mich das Thema emotional zu sehr mitnehmen könnte. Natürlich schaffe ich das, meinte ich. Seine Frage habe ich mir in den letzten Monaten dann aber sehr oft selbst gestellt.

Aber nicht wegen der Geschichten, sondern eher wegen der Kamera, die ständig kaputt gegangen ist und später wegen des völlig unterschätzten Aufwands, eine Ausstellung zu organisieren. Ja, dieses Projekt hat mich sehr berührt, die Menschen haben mich berührt. Es gab Momente, in denen ich tatsächlich auch mal geweint habe. Aber das ist in Ordnung.

Seitliches Frauenportrait

„Warum willst Du bei diesem Projekt teilnehmen?“, fragte ich auch relativ oft. „Ich sehe es als eine kleine Mutprobe“, antwortete eine junge Frau. Auch für mich war diese Arbeit eine kleine Mutprobe. Einerseits thematisch, andererseits technisch. Der größte Test für mich selbst ist nun aber, meine Arbeiten nicht auf meinem Rechner oder in einem Buch zu verstecken, sondern sie der Öffentlichkeit in einer Ausstellung zu präsentieren, in diesem Artikel und sogar in einem kleinen Fernsehbeitrag darüber zu sprechen.

Die Ausstellung findet vom 1. bis 3. September 2017 in Mainz in der Kunsthalle des Peng – Gesellschaft zur Förderung von Design, Kunst und Kommunikation e. V., statt. Zu sehen sind nicht nur die Fotografien, man kann sich auch Interviewausschnitte anhören. Wir alle hoffen damit, mehr Menschen zu inspirieren, ihren eigenen Körper zu akzeptieren und andere Menschen zu mehr Sensibilität im Umgang mit ihren Mitmenschen anzuregen.

Öffnungszeiten: Freitag, 1. 9.: 19 Uhr, Vernissage; Samstag, 2. 9.: 13–20 Uhr; Sonntag, 3. 9.: 13–21 Uhr, Finissage ab 19 Uhr; Ort: Kunsthalle Peng / Altes Rohrlager, Weisenauer Straße 15, 55131 Mainz

11 Kommentare

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  1. Sorry, das erinnert mich etwas an die Jahrmärkte in früheren Zeiten, als die Leute sich Kleinwüchsige oder „Riesen“, Siamesische Zwillinge …. angegafft haben.
    Nur, weil man soetwas selten / oder noch nie gesehen hat, ist das nicht gleich eine „Serie“, die man auch noch rumzeigen muss.
    Einfach mal ab und zu in der Klinik vorbei gehen und freiwilligen sozialen Dienst in der Dermatologie, Chirurgie, Onkologie absolvieren. Dann braucht’s solche Fotos nicht mehr, und man merkt: das wirkliche Leben da draußen ist noch viel spannender und gemeiner, als die eigene kleine Welt, in der wir uns bewegen, und die dann solche Normalität als „Grusel-Schauer-Erlebnis“ erscheinen lässt….

    • Genau darum geht es hier doch nicht. Es wird in keiner Weise von einem “Grusel-Schauer-Erlebnis” berichtet, sondern gezeigt wie normal diese vermeintlichen Makel sind und wie die Menschen damit umgehen. Beim Anblick der Bilder sehe ich vorallem Schönheit und Stärke.

      Um Dir wirklich einen umfassenden Eindruck von dem Projekt machen zu können, ist ein Besuch der Ausstellung sicher ratsam, denn wir zeigen hier nur einen kleinen Ausschnitt der Serie ohne die Interviews.

    • Wer hat denn hier von „Grusel-Schauer-Erlebnis“ gesprochen?! Die Autorin hat doch gar nicht behauptet, dass die Menschen sie in irgendeiner Weise gegruselt haben, sondern umgekehrt eher fasziniert (im Sinne einer gewissen Ästhetik), und auch das nicht im Sinne eines negativen Anstarrens. So, wie man oft einen nach dem gesellschaftlichen Schönheitsideal „schönen“ Menschen anstarrt. Wieso ist das bei solchen Menschen „erlaubt“ – bei Menschen, die nicht der Norm entsprechen und äußerliche Besonderheiten haben, hingegen nicht, da wird es direkt als negatives Starren abgestempelt? Und ja, vielleicht fühlen sich diese Menschen dann auch eher angestarrt als ein „gesellschaftlich schöner Mensch“ , dieser nimmt es vielleicht wiederum als Kompliment – aber genau da liegt das Problem! Wieso muss das so sein? Wieso gibt die Gesellschaft bestimmten Leuten das Gefühl, sich angestarrt fühlen zu müssen statt bewundert?
      Weil es eben noch lange keine Normalität ist bei einem sehr großen Teil der Gesellschaft.
      Insofern lebst du ja auch in einer kleinen Blase, wenn du behauptest, dass man solche Fotos nicht mehr braucht. Mag sein, dass du diese Menschen bereits selbstverständlich als normalen Teil unserer Gesellschaft und Teil des Kontinuums an Schönheiten siehst – dann Gratulation, das ist etwas wirklich Wichtiges und sehr schön so. Aber ein großer Teil der Gesellschaft sieht das eben noch nicht so. Sie hätten dann die Gelegenheit, sich die Menschen auf den Fotos in Ruhe anzusehen (und es ist ja gerade nicht wie auf dem Jahrmarkt damals, denn die „besonderen“ Menschen müssen sich eben nicht mit den Reaktionen der Betrachter konfrontieren, da ist also nichts Erniedrigendes bei meiner Meinung) und können dabei sehen, es sind auch ganz normale Menschen wie du und ich (denn traurigerweise hat das längst nicht jeder begriffen!). Die Geschichten von den Menschen, die die Fotografin dazuerzählt, können auch noch dazu beitragen.

      Das Einzige worin ich dir zustimme, ist, dass die Bilder ihre eigentlich dringende Zielgruppe sehr wahrscheinlich verfehlen werden. Das hat dann auch mit dieser Blase zu tun, denn wer wird sich die Bilder ansehen? Gebau, vor allem Fotografen und solche Menschen, die eh schon einen Sinn für Ästhetik haben und das Besondere lieben. Die gehen meist aber auch mit generell mehr Toleranz durch die Welt… Die anderen zu erreichen, dürfte wohl wesentlich schwieriger sein, da sie teilweise sicherlich nicht einmal die Bereitschaft dazu haben würden oder sich nur oberflächlich mit dem Thema auseinandersetzen würden (bis hin dazu, sich tatsächlich über die Menschen lustig zu machen).

  2. (Endlich) mal eine andere Darstellung des Körpers, Spuren, Indizien der Lebensgeschichten …
    Gratulation auch für den Mut den es braucht auf andere Menschen zuzugehen.
    Ich wünsche Svenja viel Erfolg für Ihre Ausstellung !

  3. Die eine Ebene sind die Fotos und die Darstellung hier, die mich tatsächlich ans Schaustellern vergangener Jahrmärkte erinnern. Darüber hinaus interessierten mich die Ansichten der abgebildeten Personen, die Antworten auf die im Text hier oder zur Ausstellung gestellten Fragen, Informationen, die mich selber besser umgehen liessen mit solchen Betroffenen. Diese erweiterte Ebene erreichen obiger Beitrag hier leider nicht. Selber hätte ich vielleicht anstelle „nur“ deskriptiver Fotos auch solche gewählt, die die Betroffenen zeigen, wie sie über ihre Defizite hinwegkommen, welche Anliegen sie an ihre Umwelt hätten. Schwierig, geb‘ ich zu. Eine Ausstellung, vielleicht auch andere Medien (Audio, Text) bieten hierzu wohl bessere Möglichkeiten. Wie auch immer: Gratuliere zum Mut, interessante Arbeit und alles Gute zur Vernissage!

    • Wenn ich den Bericht richtig gelesen habe, wird es auf der Ausstellung möglich sein, Interviewausschnitte anzuhören, worüber dann vielleicht genau diese Ebene erreicht wird. Aber prinzipiell stelle ich mir unter dem „Zurschaustellen vergangener Jahrmärkte“ vor, dass sich über die Andersartigkeit anderer lustig gemacht oder sich davor geekelt wird – und das zum Profit der Schausteller. Das ist für meinen Geschmack schon etwas anderes, als ästhetische Fotos zu schießen, die eben nicht die Absicht haben diese Andersartigkeit ins Lächerliche zu ziehen.

  4. Tolle und faszinierende Portraits und ein schöner Beitrag!

    Schönheit liegt halt immer im Auge des Betrachters. Und manchmal ist besonders auch besonders schön. Im Grunde genommen sind es doch die kleinen Fehler, die uns schön und einzigartig machen. Maximale Perfektion ist in der Regel auf Dauer langweillig.

  5. „Im Februar 2015 traf ich Marcus. Völlig fasziniert stand ich hinter ihm im Rewe an der Kasse. Groß, schlank, gutaussehend – und so völlig anders. Sein Gesicht war von auffällig vielen kleineren, größeren und flächigen Muttermalen übersäht, die sich auch am Hals herunterzogen.
    Vorsichtig versuchte ich, ihn zu beobachten, ohne zu offensichtlich zu starren. Ich wollte ihn unbedingt fotografieren.“ – warum wollte die Autorin ihn unbedingt fotografieren? Wegen seiner Muttermale, wegen seines andersartigen Aussehens? Hat das nicht etwas von „der sieht so schön exotisch aus, da mach ich mal ein Foto“?
    In meiner Lebenswelt kann ich nicht feststellen, das Menschen, die wie in den o.a. Fotos gezeigt, etwas anders aussehen, angestarrt werden. Mit diesem Projekt kommt die Autorin nach meiner Erfahrung 20 bis 30 Jahre zu spät. Die Interviews kenne ich nicht, vielleicht ergibt sich daraus etwas anderes.

  6. Hallo Svenja,

    diese Menschen sind alle wunderschön auf ihre ganz eigene Weise. Sie brauchen kein Make Up, keine auffällige Kleidung, keine große Inszenierung. Und die Fotos strahlen nur so von ihrem Selbstbewusstsein!

    Ich bin sehr begeistert von dieser Serie! Ehrlich gesagt schon ziemlich berührt und mir stehen auch ein bisschen die Tränen in den Augen.
    Denn von klein auf bin auch ich es gewohnt aus der Masse herauszustehen und länger angeschaut zu werden als andere. Dabei habe ich eigentlich nur rote Haare und blasse Haut. „Ist doch normal“ werden viele jetzt sagen, aber das ist es eben nicht.
    Auch wenn dies keine Krankheit ist, sondern eine mein persönliches Geschenk von Mutter Natur, hat es mich fast über 17 Jahre gekostet dieses Geschenk als solches zu erkennen.
    Man hat es nicht leicht wenn man sich so deutlich von anderen abhebt, für etwas das man nicht beeinflussen kann. Ich wurde fast täglich von anderen Kindern gehänselt, als Karottenkopf, Feuermelder, Hexe oder Leiche bezeichnet. Das ging bis in meine Jugend. Vor allem die blasse Haut rückte immer mehr in den Vordergrund der Beleidigungen. Man hat gelernt zu überspielen, so zu tun als würden die Worte der anderen dich nicht verletzten. Doch grade in dem Alter wo man beliebt sein möchte und sein Selbstbewusstsein entwickelt, gehen solche Bemerkungen nicht spurlos an einem Vorbei. Man versucht zu verändern, was sich einfach nicht verändern lassen kann!
    Wie oft stand ich in der Drogerie vor Haarfärbemitteln und Selbstbräuner? Zu oft. Zum Glück hab ich mich immer dagegen entschieden. Ich hatte zu viel Angst vor dieser Veränderung, denn rote Haare und blasse Haut, zeichnen mich eben aus.
    „Ich bin nicht wie die anderen. Ich falle auf. Ich bin einzigartig!“ habe ich mir immer wieder gesagt.
    Heute bekomme ich viele Komplimente für meine Haare und darüber freue ich mich natürlich. Ich habe kein Problem mehr damit wenn ins Schwimmbad gehe und Dinge höre wie: „Die ist so weiß, die blendet mich!“. So ist es nun mal und ich kann und will nichts daran ändern. Aber bis man an diesem Punkt ist, wo man das auch wirklich ernst meint, ist es ein langer und sehr zäher Prozess.

    Ich hoffe dass „Star(r)ing“ die Menschen wirklich zum Nachdenken bringt.
    Leute die es nicht gewohnt sind angestarrt zu werden, haben meistens auch kein Gespür für die Wirkung ihrer Worte oder Blicke. Viele denken einfach nicht über das nach was sie sagen und was es in dem anderen auslöst oder was die Blicke mit einem machen.

    Deswegen möchte ich dir danken Svenja, dass du dich mit diesem sensiblen Thema beschäftigt hast. Es ist das schönste Gefühl wenn man für das, was einen jahrelang immer belastet hat, plötzlich soviel Anerkennung bekommt. Du machst aus dem negativen Gefühl ein positives!
    Es sind wirklich wunderschöne Fotos und ich wünsche dir eine wundervolle Ausstellung. Schade, dass sie in Mainz ist ich hätte mir gerne die restlichen Fotos angesehen.

    Vom Herzen liebe Grüße und alles Gute,

    Der Rotschopf

  7. Liebe Svenja,

    leider hatte ich nicht die Möglichkeit die Ausstellung zu sehen. Das Fernsehinterview und die oben gezeigten Bilder haben mir schöne und besondere Menschen gezeigt. Und jeder der in diesen Bilder etwas anderes sieht (Gruselkabinett, furchtbarer Begriff), sollte sich mal mit seiner eigenen Ansichtweise von Menschen auseinandersetzen. Ich hoffe, das ich irgendwann die Möglichkeit habe, die Ausstellung zu sehen.

    Liebe Grüße Judith