Streifzug durch Breslau
In der großen Markthalle stehe ich auf der oberen Galerie und schaue dem lebhaften Treiben unter mir zu. Ich sehe die Händler*innen, wie sie ihre Waren in den Auslagen richten. Ich sehe Obst und Gemüse, Süßigkeiten und Drogerieartikel in allerlei leuchtenden Farben.
Manche Leute kommen nur für einige Einkäufe hastig an einen Stand, andere flanieren in den Gängen umher, reden mit den Verkäufer*innen hier und da oder kosten von den kleinen Portionen, die die Händler*innen auf Tellerchen anbieten. Von oben habe ich einen guten Überblick. Ich nehme meine Kamera und mache ein, zwei Fotos.
„Entschuldigen Sie, Sie haben da eine alte Kamera, ja?“ Ich drehe mich um. Ein Mann mittleren Alters mit einem schwarzen Sakko steht vor mir, er lächelt freundlich. Er kam offenbar aus der Tür hinter mir, auf der „BIURO“ steht. „Das sieht man nicht mehr so oft, solche alten Kameras“, sagt er weiter. „Ja, genau. Ich fotografiere von hier oben ein bisschen die Halle. Wollen Sie, dass ich vielleicht ein Bild von Ihnen mache?“, erwidere ich.
„Lassen Sie sich nicht stören, gern! Ich bin übrigens der Manager“, stellt er sich vor und sagt: „Aber wenn die Halle Sie interessiert, dann kommen Sie einfach mit. Ich bin nämlich gerade dabei, meine Runde zu machen und kann Ihnen einiges zeigen.“ Begeistert sage ich zu, folge ihm und höre, wie er mir die Halle erklärt. Die fast einhundert Meter lange Markthalle wurde 1908 erbaut. Damals waren die unverkleideten Betonbögen hochmodern.
Diese Konstruktionsweise ist sehr ähnlich der etwas später gebauten Jahrhunderthalle. Auf der ersten Ebene, hier auf der Galerie, gibt es viele kleine Läden, die Textilien oder Korbwaren anbieten und Dienstleister wie Schlüsseldienste, Geldwechsler, Kopierläden usw. Ich folge dem Manager in einen geräumigen Lastenaufzug, der sich in der Ecke der Halle befindet. Innen ist er aus Holz.
„Das ist ein Vorkriegsmodell und es geht immer noch“, sagt er, klopft anerkennend auf die Balken, schließt die Tür und drückt den Schalter an der Kabinenwand. Wir zuckeln langsam ins Erdgeschoss. „Hier an den Seiten war einmal eine Fleischerei, alles war mit Kacheln gefliest. Jetzt ist hier ein schickes kleines Café, sehr beliebt!“
Ich folge ihm, schüttele die Hände des Cafébesitzers und blicke auf die Reste der cremefarbenen Kacheln an der Wand. Dadurch, dass die Halle eine solide Betonkonstruktion ist, gab es kaum Kriegsschäden, erzählt mir der Manager, während wir weiter durch die Gänge mit den Verkaufsständen laufen.
„Die Fenster an der hinteren Seite restaurieren wir gerade, sie werden hoffentlich vor dem Winter fertig. Und hier“, er bleibt vor einem Treppenabsatz stehen und nimmt eine Kette, an der ein Schild mit der Aufschrift „Przejście wzbronione“ beiseite, „kommt normalerweise kein Tourist hin.“ Wir steigen die Treppe hinab.
„Na, wird hier auch gut gearbeitet und nicht so viel Pause gemacht?“, lacht der Manager zu zwei Männern, die am Ende der Treppe auf Polstersesseln sitzen und eine Zigarette rauchen. Ich folge ihm durch die Gänge, während er mit einer kleinen Taschenlampe auf Türen und Verschläge an den Seiten weist.
„Die Händler*innen lagern hier im Keller ihre Waren und manche der Türen gehen nach oben zur Straße auf“, erklärt er. Er leuchtet hoch. Ich erblicke schräge über mir eine Tür, davor eine glatte, steile Fläche, ähnlich einer Rutsche. Er weist mich darauf hin, dass früher die lose Ware nach unten in die Lagerräume geschippt wurde. Wir gehen weiter, kommen durch eine Küche, durch einen Schankraum und eine breite Treppe wieder nach oben.
„Und hier ein tolles, neues Restaurant mit Craft-Bier, das wird ja immer populärer bei den jungen Leuten!“, sagt er, während wir vor der Markthalle stehen. Ich schlage ihm vor, dass ich ihm ein Polaroid von der Markthalle mache – als Dank für die detaillierte Führung durch die Räumlichkeiten, bevor wir auch noch den kleinen Turm mit der Uhr erklimmen.
Neben der alten Markthalle fließt die Oder. Sie umschließt beinahe die gesamte Innenstadt und bildet mit ihren Nebenarmen viele kleine Inseln – unter anderem auch die Dominsel, auf der ich meinen Weg fortsetze. Ich spaziere durch die Straßen und über Brücken, vorbei am Erzbischöflichen Palais. Mittlerweile regnet es und ich habe Regenjacke und Kapuze übergezogen.
Vom hohen Turm des Doms schaue ich auf die Stadt. Leider ist es auf dem Turm nicht minder nass und windig als unten. Ich folge mit meinen Blicken der Oder. Dort hinten, etwas weiter entfernt, müsste die andere berühmte Halle stehen, die Jahrhunderthalle.
Die Jahrhunderthalle mit dem danebengelegenen Vier-Kuppel-Pavillon entstand in den Jahren 1911 bis 1913. In der kleinen, interessanten Ausstellung zur Baugeschichte erfahre ich, dass die Halle eine größere Spannweite als das römische Pantheon hat und auch größer ist als die Hagia Sophia in Istanbul.
Errichtet wurde dieser weltgrößte Kuppelbau aus Stahlbeton als Ausstellungs- und Festhalle zur Hundertjahrfeier der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft. Während des Zweiten Weltkrieges blieb die Jahrhunderthalle nahezu unbeschädigt, sie diente als markanter Orientierungspunkt für Bomberpiloten und wurde nach dem Krieg in Hala Ludowa („Volkshalle“) umbenannt.
Zur Besichtigung kann ich nur auf die Ränge für die Zuschauer*innen, da im Innenraum gerade eine Industriemesse vorbereitet wird. Fahrstuhlmusik dudelt leise vor sich hin, Aussteller*innen bauen ihre Stände auf. Ich mache innen einige Fotos von der riesigen Kuppel, bevor ich wieder hinaus ins Nass gehe.
Neben der Halle gibt es noch zwei weitere Highlights zu entdecken: Den Japanischen Garten, in dem ich einige Spätblüher entdecke, ebenso wie Ginkgo-Bäumchen, Lavendelheiden und Wasserkaskaden sowie das Gelände der Werkbundsiedlung Breslau von 1929, auf dem es einige Gebäude berühmter Architekten, u. a. von Hans Scharoun und Adolf Radig, zu sehen gibt.
Bei starkem Regen fahre ich mit der Tram zurück in die Innenstadt. Unweit des Hauptbahnhofs steige ich aus und laufe durch die Straßen. Vorbei am Rynek, dem Großen Ring, auf dem das Wahrzeichen der Stadt steht, das alte gotische Rathaus. Um den Platz herum findet sich ein farbenfrohes Ensemble historischer Bürgerhäuser aus unterschiedlichen Kulturepochen, von der Renaissance bis zum Jugendstil, ja sogar ein Haus der Neuen Sachlichkeit ist darunter, sowie die Elisabethkirche – mit einem kleinen Zwerg davor. Genau genommen entdecke ich hier und da viele kleine Zwerge.
In irgendeinem Reiseführer habe ich gelesen, dass es rund dreihundert Zwerge geben soll. Sie erinnern an den Widerstand gegen das sozialistische Regime in den bleiernen 70er und 80er Jahren. Oppositionelle hatten Parteiplakate damals mit Zipfelmützen übermalt und auf Demonstrationen setzten sich viele eine Wichtelmütze auf den Kopf.
An der Straßenecke Piłsudskiego und Świdnicka stehen auf der einen Seite einige mannshohe Bronzeskulpturen, die im Gehsteig verschwinden. Auf der anderen Seite der Straße kommen sie wieder aus der Erde hervor. Das Denkmal heißt „Przejście“, also „Übergang“. Der Künstler Jerzy Kalina will damit an die Zeit des Kriegsrechts Anfang der 80er Jahre erinnern, als ein Symbol für den Untergang des Kommunismus und den Aufstieg der Demokratie. Ich werde nachdenklich.
In den aktuellen Nachrichten höre ich immer wieder vom Streit um das Verfassungsgericht, neue Mediengesetze, Anti-Abtreibungsreformen usw. Vielleicht nähern sich diese Bronzeskulpturen leider wieder einem Übergang? Meine Stimmung wird durch den Regen und die Aussicht auf eine Demokratur ernster. Immerhin gibt es viele starke Proteste der Zivilgesellschaft gegen die Ideen der nationalkonservativen Regierung.
Neben den unguten politischen Entwicklungen steckt das Land seit Anfang 2016 in einem Goldrausch: Ein Panzerzug voller Gold soll in einem Tunnel in Niederschlesien verschüttet sein. In den letzten Kriegsmonaten beluden die Nazis die Waggons mit den Goldreserven aus Breslau, um die Schätze in Sicherheit zu bringen – so die Legende.
In der Umgebung von Wałbrzych gibt es umfangreiche Tunnelsysteme unter den Bergen. Das größte Schloss Niederschlesiens, Książ (Fürstenstein), soll ebenfalls untertunnelt sein. Irgendwo hier soll der Zug in einen Tunnel gefahren sein, der Eingang wurde anschließend gesprengt. Alle Spuren wurden beseitigt, die darauf hindeuteten, dass sich dort einmal ein Tunnel befand.
Nachdem zwei Hobby-Archäologen 2015 erklärten, den Zug gefunden zu haben, war ganz Polen aus dem Häuschen. Alle Suchgrabungen blieben allerdings erfolglos. Profitiert von dem Aufruhr hat allerdings das Schloss Książ – viel mehr Besucher haben sich seither die Schlossräume angeschaut. Die Innenräume des Schlosses sind jedoch zum Großteil karg: Zuerst haben die Nazis das Schloss nach ihren Vorstellungen umgebaut und einen Großteil der Inneneinrichtung abgetragen.
Hier sollte eine Luftwaffenschule entstehen. Unter den Bergen haben viele KZ-Häftlinge ein Stollensystem gegraben, in dem die militärische und politische Führung hätte Schutz suchen können. Nach dem Krieg wurde der Rest der Inneneinrichtung geplündert.
Unterhalb des Schlosses sind einige sehr schöne Gärten erhalten. Hinweise auf den Goldzug oder neue, verborgene Tunnel habe ich allerdings nicht entdecken können – und das, obwohl an diesem Tag der schönste Sonnenschein des Herbstes herrschte.