Die einsamste Stadt der Welt
Tokio ist die einsamste Stadt der Welt. Jahrelang zumindest war das meine Vorstellung von der japanischen Hauptstadt. Nicht, dass ich jemals eine besonders ausgeprägte Vorliebe für die japanische Kultur gehabt hätte oder etwas Wissenswertes über dieses Land hätte berichten können, aber in mir irgendwo gab es diese Idee – zusammengeklaubt aus Murakami-Romanen und ausländischen Filmen – einer glänzenden, hypermodernen Stadt aus Beton, in der sich Millionen Menschen in schwarzen Anzügen durch die Straßen drängen, kommunikationslos, von Massen geschoben und doch stets für sich. Und diese Idee faszinierte mich, schon immer.
Eines Abends saß ich bei einem Glas Rotwein an meinem Küchentisch, etwas trübselig, nach Wochen intensiver Projekte, persönlicher Rückschläge und mit dem Gefühl, nicht mehr zu wissen, wohin ich gehörte. Aus dieser Laune heraus suchte ich nach Orten, die ich besuchen könnte, um Abstand zu gewinnen, aber auch, um mich in aufregenden Abenteuern zu verlieren. Und wo ginge dies besser, als 9.000 Kilometer entfernt, in der einsamsten Stadt der Welt?
Die Flüge waren günstig und ich buchte einen Zeitraum, der sich gut anfühlte: Knappe sieben Wochen, die mir ausreichend Zeit geben sollten, in der Stadt anzukommen, mir die Möglichkeit offen ließen, dort zu arbeiten oder mit dem Zug durch andere Präfekturen zu reisen.
Eine Woche vor dem Abflug platzten alle von mir geplanten Projekte und so kam es, dass ich im Februar 2016 mit einer lediglich für die erste Woche gebuchten Unterkunft, einem Japan Rail Pass für 14 Tage, 130.000 Yen in bar, zwei Kameras und sonst keinen weiteren Plänen nach Tokio flog.
Ich hatte viel Zeit, keinerlei Sprachkenntnisse und nur bedingt eine Ahnung, was ich sehen wollte. Also begann ich, mir Tagesziele zu setzen und mich sonst einfach treiben zu lassen. Das waren mal Museen, mal Parks, mal bestimmte Restaurants oder Kaufhäuser, mal ganze Viertel.
Und ich begann, zu fotografieren. Alles, was mich beeindruckte, verwunderte oder was ich als besonders schön, exotisch, aufregend oder besonders langweilig empfand, dokumentierte ich. Es war wie Notizen machen, nur dass ich diese nicht niederschrieb oder abends jemandem davon berichten konnte: Ich fotografierte.
Zweieinhalb Wochen blieb ich zunächst in Tokio, dann setzte ich meine Reise fort in Richtung Süden. Ich hatte in einem Reiseführer von einer Ananasplantage auf Okinawa gelesen, in der man in einem Auto in Ananasform durch die Plantage fahren kann und also bitte, wie kann man das nicht gesehen haben wollen, wenn man schon einmal in Japan ist?
Ich hatte dank meines Rail Pass 14 Tage Zeit, um dort anzukommen und reiste so von Tokio nach Kyoto, dann nach Naoshima/Teshima, nach Hiroshima, nach Kumamoto und Takachiho, um dann von Kagoshima mit der Fähre nach Okinawa überzusetzen und von dort wieder zurück nach Tokio zu fliegen.
In der Zeit habe ich mir Schnee, der von Zedern rutscht, auf die Nase tropfen lassen, mich durch Berge von Ramen gefuttert, Wale beobachtet und morgens um 7:30 Uhr (nach dreistündiger Wartezeit) das beste Sushi der Welt gefrühstückt. Ich habe in Bars japanischen Whisky getrunken, mich einsam gefühlt und über meine Sprachlosigkeit gelacht. Ich habe unter dem Sternenhimmel in heißen Quellen gebadet, mich in kitschigen Kaufhäusern verlaufen und Sake gekostet.
Ich wurde von Erdbeben geweckt, habe mich auf der Fähre nach Okinawa von einem Sturm durchschütteln und mir dabei von einer 86-jährigen Japanerin ins Ohr schnarchen lassen und bin in einem Ananasmobil mit Ananassofteis in der Hand durch einen Ananaspark gefahren. Ich habe geweint, vor Freude, vor Wut, Einsamkeit und Rührung und ich habe eines gefunden, das ich verloren geglaubt hatte: Das Gefühl von Hoffnung.
Und ja, Japan ist ein einsames Land, wenn man es will: Es ist unaufdringlich und sanft. Selbst wenn sich die Gesichter der Geschäftsmänner an die beschlagenen Fenster der Yamanote-Linie pressen, liegt eine seltsame Art von Sanftmut über der Stadt.
Dennoch saß ich häufig mit Fremden zusammen, deren Geschichten ich zumindest verbal nicht verstand, aber deren Herzlichkeit und, wenn auch manchmal etwas zögerliche, Offenheit mir ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gaben, das ich so bisher in keinem anderen Land erlebt habe.
Nach 44 Tagen kam ich wieder in Deutschland an, mit freiem Kopf, einem guten Gefühl in Bauch und Herz und einer Tasche voller Bilder, die ich nicht einfach so in Vergessenheit geraten lassen wollte. Ein Freund, der Grafiker Max Weinland, schlug mir vor, er könne mit mir zusammen ein Buch gestalten; eine Sammlung meiner Notizen, sozusagen, und so entstand „Looking Up To The Sun Through Tears“, ein visuelles Reisetagebuch.
Obwohl ich als freie Fotografin schon einige Bücher gemacht habe, ist dieses das erste Buch, das eine Geschichte erzählt, die ausschließlich mich und meine Auseinandersetzung mit meiner Umgebung als Bezugspunkte hat. Momentan existieren nur zwei Exemplare: eins für mich und eins für Max, der das Buch gestaltet hat.
Da ich aber nicht möchte, dass diese visuelle Auseinandersetzung in der Schublade verschwindet, haben wir eine Kickstarter-Kampagne ins Leben gerufen, über die man bis zum 8. Februar 2017 ein Exemplar von „Looking Up To The Sun Through Tears“ vorbestellen kann.