Ich weiß. Dieser Titel klingt hochtrabend. Nein, ich bin kein Psychologe. Aber ja, ich bin Fotojournalist. Und weil ich ein Mensch mit Seele bin, galoppiere ich nicht die meiste Zeit meines Lebens über Rosenbeete der Glückseligkeit. Ganz im Gegenteil. Ich leide an Depressionen – und zwar seit meiner Kindheit. Nein, es handelt sich hier nicht um „mal einen schlechten Tag haben“, aber ja, ich habe dies diagnostiziert bekommen. Mehrfach. Ich bin chronisch depressiv.
Doch all das macht mich nicht zum Therapeuten. Ich bin ein Mensch von vielen – und jede*r entwickelt eine ganz eigene Form der Depression. Was ich aber weiß, ist, wie es sich anfühlt, wenn das innere Sein von Schmerzen getränkt ist. Was ich in jeder depressiven Episode als entspannend und wohltuend empfunden habe, war das Fotografieren. Nein, ich glaube nicht, dass Fotografieren allein ein Allheilmittel ist. Aber ja, ohne das Fotografieren würde mir ein kleiner, aber signifikanter Teil im Gesundungsprozess fehlen.
Hat mich mal wieder eine Depression kalt erwischt, fühle ich mich oft zu überhaupt nichts in der Lage und mein Selbstwertgefühl ist unter dem Gefrierpunkt: Eingefroren, nicht zugänglich. Der Eindruck, gar nichts wert zu sein, drückt auf alle Sinne. Doch eines weiß ich: Auch, wenn ich nur zehn Minuten mit der Kamera rausgehe und mich zu selbigem Akt zwingen muss, werde ich es hinbekommen, ab und zu den Auslöser zu drücken.
Was dann passiert, ist kein Wunder und tataaaaaa, alle Depressionen sind weg. Jedoch komme ich meist mit ein paar guten Fotos nach Hause. Diese bearbeite ich dann, zeige sie Freund*innen und wenn ich nicht ganz am Boden bin, poste ich sie auf Twitter. Die Idee dahinter ist für ich so simpel wie möglich: Mach das, was Du kannst und Dir Spaß macht. Das Stichwort ist Aktivierung. Denn dann, wenn ich „ganz unten“ bin, ist manchmal schon „ein Brot schmieren“ fast nicht zu schaffen.
Nach der Aktivierung kommt, zumindest bei mir, der nächste wichtige Schritt: Ein Ritual schaffen. Das bedeutet in meinem Fall: Regelmäßiges Widerholen – und bei mir ist der Ein-Tages-Rhythmus der beste. Das bedeutet, dass ich mir angewöhnt habe, täglich rauszugehen und Fotos zu machen. Eine feste Uhrzeit habe hat sich bei mir nicht durchgesetzt, denn ich mag es, spontan und flexibel zu bleiben. Denn so komme ich schnell in eine Art Routine, die mir hilft, mich nicht jedes Mal überwinden zu müssen.
Die Freude am Fotografieren kann dann eine unterstützende Kraft im Heilungsprozess sein. Wie schon oben gesagt: Fotografieren allein hat mich noch nie aus einer depressiven Episode gezogen. Dafür müssen noch viele weitere Prozesse in Gang kommen. Und dennoch möchte ich nicht mehr darauf verzichten.
BIn tief beeinduckt!
Kunst – und man kann eine bestimmte Art Photographie hier einbeziehen – ist eine Praxis der Wahrheit und in diesem Sinne befreiend …
Persönlich kann ich Martins Verhältnis zur Photographie sehr gut nachvollziehen.
Was Du hier sehr eindrücklich beschreibst kann ich gut nachvollziehen, da ich mich in ähnlicher Situation befinde. Erfahrungsgemäß reagieren nicht Betroffene meist so, dass sie argumentieren: jeder hat mal einen schlechten Tag, man muss sich mal selbst in den Hintern treten … Eigentlich ein Indiz dafür, dass Ihnen diese Situation unbekannt ist und sie nicht in der Lage sind, trotz ihrer so ausgeprägten Empathie, die Empfindungen zu begreifen. Auch mir hilft die Fotografie oft etwas weiter. Möglicherweise erkennt man in den Fotos etwas vom zeitweiligen Zustand, denn Kommentare (traurige, farblose, düstere, schwer nachvollziehbare Bilder) lassen dies vermuten.
Hallo Heinz-Dieter, vielen Dank für Dein Feedback. Ja, in vielen Fällen ist das direkte Umfeld einfach überfordert, mit dem Zustand des*der Depressiven entsprechend umzugehen. Bei mir sind jedoch die Motive gar nicht traurig, denn ich versuche gar nicht, mich über die Fotografie auszudrücken, sondern um in erster Linie mir selbst etwas gutes zu tun.
Beeindrucken und vor allem mutiger Artikel, denn was von außen nicht erkennbar ist wird von seiner Umgebung sehr schnell als simulieren abgetan, deswegen geben es die wenigsten nach außen hin auch wirklich preis. Mir selbst ist es auch in einer Gott sei dank sehr, sehr, sehr abgeschwächten Form selbst so ergangen und auch ich habe nach ca. 25 Jahren wieder mit der Fotografie begonnen. Die Beschäftigung mit sich und der Umwelt durch die Fotografie hat in meinen Augen fast therapeutische Wirkung. Im übrigen sind die Bilder für mich sehr, sehr gut.
Alles Gute weiterhin – Grosinger Josef
Vielen Dank, Josef. :)
Mir fällt dazu spontan ein Video über und mit Ryan Muirhead ein, in dem er über seinen Werdegang spricht. Hier der Link: https://vimeo.com/160809068
Großartig und genau meins. Für solche raren Perlen bin ich seit vielen Jahren täglicher Besucher von Kwerfeldein – mein Morgenritual. Und mein Ansporn. Danke, Martin!
+1
Das freut mich, Manuel. :)
Hallo Martin, danke für diesen sehr offenen, einfühlsamen, aber auch ermutigenden Artikel. Die Fotos sind auch einfach klasse. Das Wichtigste, was du schreibst, finde ich die Tatsache, dass man sich überhaupt aktiviert, wenn man in einer depressiven Phase ist – das ist dann oft schwer genug und wenn du das auf diesem Wege schaffst, dann ist das doch ganz große klasse! Ich finde, dein Artikel kann anderen Betroffenen einen kleinen mutmachenden Aspekt zeigen – sehr wertvoll!
Danke! Und ja, das wäre natürlich optimal, wenn mein Artikel dazu anregt, sich zu aktivieren. :)
Hi Martin, ich kann ihnen sagen – das tut er! Ich bin eben darüber gestolpert und fühle mich gut beschrieben 😕 auch mich plagt „der grosse schwarze Hund“ sehr häufig! Ich konnte mich bisher nicht in diesr Form aktivieren aber evtl. haben Sie gerade „eine gute Tat“ vollbracht 😉!
Zu Ihren Bildern: Diese sknd sehr gut komponiert und mit der Seele gefunden, so schön habe ich Grossstadttrisstess noch nie gesehen! Respekt! Fotografie ist eben „mit Licht mahlen“!
Danke!
Ich verfolge deine sensiblen Berichte und Fotos nun seit einiger Zeit und bin immer wieder sehr berührt davon – wahrscheinlich weil ich genau dies alles selbst gut kenne und bei dir schon herausspüren konnte …… Alles Liebe!
Hej Martin,
Ich weiß sehr genau was du meinst!
Mir hat die Fotografie, sehr wahrscheinlich das Leben gerettet und gibt mir heute eine wunderbare Kontrolle darüber, wie ich meine Welt und mich in ihr sehe.
Ich litt auch unter schweren Depressionen benötigte aber eine Therapie.
Auf dem Weg zur Genesung stoß ich auf sehr interessantes Buch von Judy Weiser aus den USA „Photo Therapy Technics“, ich empfehle es dir wärmstens. Du bist auf dem richtigen Weg und wünsche Dir alles gute.
Denn eines Tages wird es Dir wie mir gehen und bist durch mit der Depression.
MfG Sven Rausch
In einer Antwort schreibst du ,….fotografiere in erster Linie mir selbst gut zu tun.Ich bin nicht depressiv,ich bin Alkoholiker,das heißt zeitweise Depressiv,seit 10 Monaten ohne Drink.Heute mit Butterbrot.In der Therapie hab ich angefangen mich in Achtsamkeit zu üben.Ich entdeckte für mich die Fotografie wieder, denn in jungen wilden Jahren hab ich viel fotografiert.Ich ,,,tue,,,gehe raus und fotografiere,Meine Bilder.Ich bin mein Künstler!,in Achtsamkeit,yes Fotografie für mich Therapie. Dein Artikel hat mich berührt,so intim schreib ich sonst nie,alles Gute.
Lieber Martin,
Danke für deine Offenheit. Kenne diesen Zustand so gut. Und ja, Routine hilft mir auch.
Alles Gute auf deinem Weg
hello!
für mich ist die kamera mein „hund“.
als hundehasser muß ich eine kamera haben, um den inneren schweinehund mores zu lehren.
ich neige zu wohligem rumhängen auf dem sofa, besonders in der düsteren jahreszeit.
außerdem soll ich, meinem kardiologen folgend, so an die drei stunden forciert gehen.
also: vitrine auf, eines meiner „hündchen“ rauskramen, und ab in die außenwelt.
draußen trifft die außen- auf die innenwelt.
und dann das nach-erleben am laptop:
das bearbeiten ist mir ritual und eine art von ZEN.
ich suche und finde in meinen bildern oft passende fragen zu gegebenen antworten.
mehr und mehr beschränke ich mich auf eine festbrennweite, um mich zu nötigen, mit eben genau diesem werkzeug und keinem anderen was zu finden, das vor dem inneren augen nachhaltig bestand haben könnte.
so also ist photographie auch für einen pensionierten lichtbildner aus dem analogiversum (photographenlehre 1963-1967) therapie, „hund“ und lieferant des unendlichen Inneren bilderbuches.
servus,
werner aus der hochsteiermark
Guten Tag
ich finde diesen Ansatz sehr gut, auch dass sie darüber schreiben und Bilder zeigen, die ich übrigens als sehr ausdrucksstark erlebe. In meinem nächsten Buch geht es u.a. auch um das Gefühle ausdrücken, darf ich da mal auf sie zukommen? Würde mich freuen
herzliche Grüsse Prof. Sven Barnow
Natürlich, gerne!
Ok können wir mal telefonieren? Können sie mir ihre Nummer an sbarnow@mac.com schicken? Und auch wann es passt? Vielen Dank
Gute Bilder! Vor allem wirken sie auch, ohne deine Geschichte dazu.
Schönen Gruss
Marc
Lieber Martin, ih danke Dir für Deine Offenheit. Auch ich habe immer wiederkehrende depressive Episoden und dazu noch eine Angststörung. Die Fotografie begleitet mich schon seit meinem sechsten Lebensjahr – da bekam ich meinen ersten Porst-Kinder-Fotoapparat geschenkt. Die Fotografie hilft mir eine gewisse Distanz zu schaffen und dann in eine Reflektion zu gehen. Am besten gelingt mir das bei Selbstportraits oder auch generell bei Portraits von Menschen zu denen ich eine Beziehung habe.
Was ich an deiner Arbeit sehr schätze – und mir auffällt – ist die Tatsache, dass Glas und auch Fenster eine Rolle spielen. Das gefällt mir sehr gut und dadurch wird Dein Seelenleben metaphorisch punktgenau gespiegelt!
Danke, Claudia
Oh, das kenne ich gut.
Hmmm muss ich nachdenken.
Kann ich sehr gut nachempfinden – mir passierte etwas Ähnliches in der Krankheitsphase eines Burnout. Ich fuhr das erste Mal wieder Auto, die Kamera auf dem Beifahrersitz und ab in den Hafen, Sonntag morgens einsam und verlassen. Zuerst sah ich NICHTS und dann plötzlich schob sich die Kamera fast wie von selbst vor die Augen und mein Inneres deckte sich mit einem Mal, wurde wieder eins. Die ganze Zeit zuvor war ich wie ein Zombie neben mir hergelaufen und nun hatte mir das Fotografieren ein Stück heilsame Normalität zurück gegeben….
vielen Dank für die unglaublich guten beeindruckenden Bilder und noch mehr Dank für die Offenheit. Ich bin als Angehörige mittelbar betroffen.
Herzlichen Gruß
Blogartikel dazu: Gate I 018: Fotografie als Therapie – Martin Gommel
Starker Artikel, Martin! Du sprichst da eine sehr spannende Seite der Fotografie an. Die Stichworte „Aktivierung“ und „Ritual“ scheinen mit in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Bei einer Depression verfällt man ja häufig in einen Zustand der Lethargie und Antriebslosigkeit. Man verliert den Bezug zur Welt und kann sich für nichts mehr begeistern. Die Kamera ist in solchen Phasen ein Instrument, wieder in den aktiven Modus zu gehen und sich mit der Umegbung zu verbinden – indem man von Dingen, die einen ansprechen und gefallen, ein Foto macht.
Blogartikel dazu: El Calafate-Perito Moreno-El Bolson – Bettina Louis