07. Juli 2016 Lesezeit: ~8 Minuten

Samtene Schatten und die Ästhetik des Verfalls

Auf einem Regal stehen diverse bizarre Gegenstände: Einmachgläser, Fahrradketten, ein Dutzend Tierschädel, unzählige Knochen und der Kopf einer Schaufensterpuppe. Auf dem Schreibtisch davor liegt ein Käfig, auf dem eine vertrocknete Schleiereule drapiert wurde. Ihr Gesicht erkennt man durch einen alten seitlich hingestellten Kosmetikspiegel. Außerdem wurde eine ausgetrocknete Froschhaut am Gitter des Käfigs befestigt und in der Mitte ein toter Vogel, dessen Füßchen in die Luft ragen, hingelegt.

Nein, es handelt sich nicht um den Requisitenfundus eines Gruselkabinetts, sondern um das Atelier von Hendrik Faure. Vor dem Schreibtisch steht seine Großformatkamera, auf deren Mattscheibe man die Bilder auf dem Kopf sieht; die Optik ist ein Voigtländer Euryscop aus der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts. Das Atelier befindet sich in einem idyllisch gelegenen Fachwerkhaus in der Nähe von Göttingen.

Stillleben mit totem Vogel

Morbides Stillleben

Hier werden Photogravüren angefertigt, ein fotografisches Edeldruckverfahren, Vorgänger des modernen Tiefdrucks. Eine Technik, mit der sich ein kontinuierliches Tonwertspektrum darstellen lässt. Das Verfahren ist aufwändig, nur noch wenige beherrschen es. Hendrik Faure gehört dazu.

Die knarzende Holztreppe führt in das Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch links steht ein iMac, dahinter ein Regal mit diversen Filmen, Namen wie Herzog, Buñuel und Jean-Luc Godard springen ins Auge. Geradezu auf dem Schreibtisch befinden sich, fein säuberlich aufeinander gestapelt, einige Gravüren. Faure greift nach dem Stapel, zieht ihn zu sich heran und zeigt sie.

Großformatkamera

Großformatkamera mit pneumatischem Verschluss und Voigtländer Euryskop

morbides Arrangement auf einem Schreibtisch

Arrangement des Stilllebens in Faures Atelier

Es handelt sich um Stillleben. Allesamt wurden sie im Atelier mit der Großformatkamera aufgenommen: Schlangen, Totenschädel, Anatomiemodelle, Blumen, undefinierbare Skelette, eine Schlagzeug-Fußmaschine, Waschbären – Faures Handschrift ist unverkennbar. Die Bilder haben eine surreale, morbide, teilweise verstörende, manchmal goyaeske Ästhetik. Sie wirken malerisch und sind erst auf den zweiten Blick als Fotografien erkennbar. Das Wechselspiel zwischen Malerei und Fotografie, erklärt Faure, interessiere ihn.

Allerdings zeigt er auch andere Arbeiten: Bilder, die sich stilistisch und technisch von den Stillleben unterscheiden. Fotografien von opulenten, in den Himmel ragenden Trümmerhaufen. Chaotische Arrangements, mal aus der Nähe, mal aus der Ferne aufgenommen. Für diese Aufnahmen besuchte er über 15 Jahre einen Göttinger Schrottplatz; sie werden in einer Galerie in Göttingen gezeigt, drei hängen auch in einer Ausstellung in Washington. Die Drucke haben samtige Schatten und weiche Tonwertabstufungen, dennoch sind sie präzise und klar.

Schrott

Schrottplatz

Wie schon die Großformatkamera vermuten lässt, arbeitet Faure mit traditionellem Film. Daher verwundert, dass sich in seinem Arbeitszimmer eine Digitalkamera befindet. „Zum Aufzeichnen, für Notizen“, erklärt er. Allerdings hat er für die in letzte Ausstellung mit der Digitalkamera auch ein Video aufgenommen: Es zeigt den Auslass einer Schrottschere mit einem übergroßen Magnetpendel, das metallische Gegenstände aus einem Schrottberg saugt, musikalisch interpretiert wird das Video mit einem elektronischen Solo des Cellisten Ulrich Maiß.

Um einen Eindruck von der Herstellung von Photogravüren zu bekommen, soll ich einem Arbeitsschritt, dem Ätzen der Kupferplatte, beiwohnen. Faure führt mich in den Arbeitsbereich unter dem Dach. Es ist kälter als im Haus, Waschbären haben die Isolierung zerstört. Im Vorfeld hat Faure ein Diapositiv im Kontaktverfahren auf eine Gelatineschicht UV-belichtet und hiermit eine Kupferplatte beschichtet.

Kupferplatte

Druckfertige Kupferplatte

Chemie wird angerührt

Vorbereiten der Eisenchlorid-Lösungen

Aus den Lautsprechern ertönt der jazzige, trip-hoppige Sound von Amon Tobin, der eine spannende Arbeitskulisse bietet. Faure hat fünf verschieden konzentrierte Eisenchlorid-Lösungen vorbereitet. Er taucht die Kupferplatte in die Lösungen. Das Eisenchlorid dringt zuerst durch die dünnsten Schichten der Gelatine, hier wird die Ätzung am tiefsten und erbringt so die Schatten des späteren Druckes. Das Ganze ist eine Wissenschaft für sich, der Akteur kann bei der Ätzung die Tonwerte des späteren Druckes beeinflussen.

Der Prozess nimmt einige Zeit in Anspruch. Nachdem Faure die Platte aus dem letzten Bad genommen und gereinigt hat, kann man das Motiv erkennen, es wirkt wie eingraviert: Stillleben mit Eule, Spiegel und Frosch, auf dem Tisch des Ateliers mit der Großformatkamera aufgenommen.

Chemie

Die Ätzung der Kupferplatte

Protokoll

Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Zeiten und Ätzstufen werden protokolliert

Sein Handwerk erlernte Faure bei Lothar Osterburg in Brooklyn. Osterburgs Gravüren zeigen selbstgebaute Modelle, bei ihnen erkennt man auf den ersten Blick nicht, ob es sich um Realität handelt oder um eine Spielzeugwelt. Während Faure damit beschäftigt ist, die Luftfeuchtigkeit zu notieren – auch sie hat Einfluss auf dem Ätzprozess – ertönt lebhaftes Gackern.

Das sind die chinesischen Laufenten im Stall unter dem Labor, erklärt er und fügt hinzu, dass sie faschistische Vögel seien, die in Reih und Glied marschieren, keine Fremden mögen und auf jede Veränderung mit alarmiertem Gezeter reagieren. Anschließend widmet sich Faure der Ätzung einer zweiten Kupferplatte, dieses Mal kein Stillleben, sondern die Fotografie eines Schrottberges.

Sowohl die morbiden Stillleben, als auch die Bilder vom Schrottplatz bieten Interpretationsspielraum, sofern man Faures bürgerlichen Beruf betrachtet – er ist Psychiater, Chefarzt in der Göttinger Asklepios-Klinik, jener Psychiatrie, in deren Umfeld die Klingebiel-Zelle steht, um die jüngst ein Zwist zwischen der Stadt Göttingen und dem Sprengel-Museum Hannover entstand. Vor mehr als zehn Jahren hat Faure sie fotografiert, lange bevor sie als Outsider-Art für Furore sorgte. Damals bezeichnete die ortsansässige Tageszeitung seine Bilder als Dachbodenromantik.

Stillleben mit totem Tier

Stillleben

Derweil hat man sich in Faures Küche eingefunden, die einladend warm ist. Auf einem verputzten Kachelofen tummeln sich Katzen. Insgesamt sind es vier und ein etwas schwer erziehbarer Hund, der ohne Mühe den Kopf auf die Tischplatte legt. Mit Besuchern hat er ab und zu Probleme, an diesem Tag scheint er gut gelaunt. Und dann ist die Zeit reif für den Druck.

Die Tiefdruckpresse befindet sich in einem Nachbarort, wo seine Frau Caro Frank einen Tanzsaal gemietet hat. Es ist bereits dunkel, als wir ins Auto steigen. Es gibt kaum Gegenverkehr. Da das Göttinger Umland recht bergig ist und es auch vorkommt, dass ein Reh auf die Fahrbahn springt, wird langsam gefahren. Der Saal ist groß und kalt. Eine Musikanlage, Instrumente und Utensilien von Performances stehen herum, Caro Frank hat Butoh-Tanz studiert.

Drucktechnisch

Einfärbung der Kupferplatte

Hendrik Faure in seinem Labor

Hendrik Faure in seinem Labor

Ein Mann an der Druckerpresse

Der Moment der Wahrheit – Faure an der Tiefdruckpresse

Der Ofen wird eingeheizt und die Musikanlage angemacht: Amon Tobin, Tangerine Dream. Obgleich sich die Wärme nur langsam im großen Raum ausbreitet, scheint Faure nicht zu frieren. Er ist in seinem Element, als er die Kupferplatten einfärbt, die Platte und das Papier auf die Presse legt.

Dann dreht er langsam das Rad. Es handelt sich um den Zeitpunkt, bei dem die Farbe der Kupferplatte auf das Papier übertragen wird. Faure atmet noch einmal tief durch. Dann zieht er langsam das Papier von der Kupferplatte. Es ist der Moment der Wahrheit, in dem sich zeigt, ob nach drei Tagen Arbeit die Gravüre gelungen ist.

Die Photogravüre zeigt das Stillleben samtig und malerisch, unter dem Kunstlicht changierend. Vor allem ist es die Wirkung der dunklen Töne, die die morbide und zugleich mondäne Ästhetik hervorhebt. Und es wird deutlich, dass Photogravüren für die von Faure erstellten Stillleben das richtige Verfahren sind: Jene Technik, die Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde und bis heute, dank ihres Tonwertspektrums – vom tiefsten Schwarz zum hellen Weiß – und dank der Haltbarkeit der Drucke ihresgleichen sucht.

Morbides stillleben

Morbide Stillleben

Demnächst wird Hendrik Faure mit seinem bürgerlichen Beruf aufhören. Die Photogravüren wird er weiter fertigen, hoffentlich so malerisch morbide wie eh und je, mit samtenem Schwarz, feinen Details und der Schönheit des Verfalls.

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