Hart aber herzlich – Bangladesch
Nach einem turbulenten Jahr und einer gewissen Stagnation in meiner fotografischen Arbeit entschloss ich mich, mir eine Auszeit von allem zu nehmen und mich ganz auf mich selbst zu besinnen. Weg von der Werbefotografie, weg von den Sorgen in meinem privaten Leben – ab nach Bangladesch.
Mein einziges Ziel auf dieser Reise war es, eine Fotoreportage für mich zu fotografieren. Ohne Druck und ohne ein konkretes Thema. Es sollte nichts gestellt werden, keine hundertste Wiederholung geben, kein künstlicher Lichtaufbau. Nur ich, die Kamera und eine Geschichte. So einfach dies nun klingen mag, desto schwieriger war es, sich in Bangladesch als Weißer zu bewegen und unauffällig Fotos zu machen.
In den drei Wochen meines Aufenthalts traf ich insgesamt sieben weitere hellhäutige Menschen, mehr nicht. So kam es, dass überall, wo ich aufschlug, alle Augen auf mich gerichtet wurden und niemand mehr seinem regulären Alltag nachging. Äußerst schwierige Bedingungen, um eine authentische Reportage zu realisieren. Doch dank der unablässigen Hilfe meines Guides Nannu, seiner Menschenkenntnis und der wertvollen Gabe, Türen zu öffnen, gelang es nach der ersten Aufregung fast immer, wieder Ruhe einkehren zu lassen.
Recht schnell gelangte ich so in einen Flow und fing an, sehr überlegt Fotos zu komponieren und auf den Auslöser zu drücken. Es sollte kein Tag mehr vergehen, an dem ich nicht ständig durch den Sucher blickte – für viele von Euch wahrscheinlich etwas völlig Normales, für mich zu dieser Zeit aber eine Sache, die mir abhanden gekommen war.
Ich irrte etwas hilflos umher, völlig übermüdet und überwältigt von den ersten Eindrücken. Gleich die ersten beiden Tage verbrachten Nannu und ich in verschiedenen Slums in der Hauptstadt Dhaka. Da dies meine erste Reise in die dritte Welt war, war ich beim Anblick der Lebensumstände, die ich vorfand, sehr schockiert.
Da hatten alle National-Geographic-Artikel und jede Reportage auf ARTE mir zwar eine Vorahnung gegeben, was Slum bedeuten kann, aber wenn man selbst mitten drin steht und neben den Bildern auch die Gerüche, die Stimmung, aber vor allem eine emotionale Bindung zu den Bewohnern aufbaut, dann ist das etwas, worauf man sich nicht vorbereiten kann. Jeder, der es selbst erlebt hat, wird verstehen, was ich damit meine. In mir stieg ein Gefühl, erfüllt von Scham, empor.
Die Menschen wohnen dicht an dicht in primitiven Wellblechhütten, direkt an den Bahngleisen. Überall liegen Plastikmüll, Essensreste und auch Exkremente. Ich gewöhnte mir schnell ab, nachzuschauen, worauf ich gerade stand. Das Treiben hier als solches erinnerte an ein ganz normales Leben außerhalb eines Slums: Zwischen den Bahngleisen findet reger Handel statt, es wird laut geredet und überall fleißig gekocht.
Wie fast alle Slums in Bangladesch entstand auch dieses aus der Situation heraus, dass es in den Städten viel zu wenig Wohnraum für die rasant wachsende Bevölkerung gab, die es vom Land in die Stadt trieb. Dhaka gilt unter Wissenschaftlern als am schnellsten wachsende Megacity der Welt. Slums entstehen in der Regel an Orten, die nicht an das Be- und Entwässerungssystem oder das örtliche Stromnetz angeschlossen sind.
In ihrer Not erweisen sich die Bengalen aber als äußerst erfinderisch und so gibt es zum Beispiel ein Waschhaus im Slum, in dem es zu bestimmten Zeiten Wasser gibt, sodass die Menschen sich selbst und ihre Klamotten waschen können. Strom gibt es hier zeitweise über einen Generator.
Bangladesch ist einer der am dichtesten besiedelten Staaten der Welt. Auf etwa der doppelten Fläche von Bayern leben hier schätzungsweise 160 Millionen Menschen. Das macht knapp 1.085 Menschen pro Quadratkilometer; rein rechnerisch ist man also nie allein. So chaotisch es hierbei in den Städten auch zugehen mag, desto entspannter wird es, wenn man aufs Land fährt. Dort fand ich verstreut einzelne Häuser, hier und da ein Dorf.
Nach Dhaka war es mir eine willkommene Abwechslung, um etwas Ruhe zu finden. Das Leben dort ist stark vom Ackerbau geprägt, vieles geschieht noch per Hand und die ganze Familie muss mit anpacken. Kinder führten mich herum und wir streiften über Reisfelder, von denen es wirklich sehr viele gibt. Bedenkt man, dass Reis das Grundnahrungsmittel der Bengalen ist, verwundert das nicht.
Da die politische Lage zu diesem Zeitpunkt sehr angespannt war und es auf Demonstrationen immer wieder Tote und Verletze gab, entschieden wir uns vorerst, Städte zu meiden und ein paar weitere Tage auf dem Land zu verbringen. Nannu zeigt mir sein Heimatdorf Sakrail, wo mir vor Augen geführt wird, was es heißt, keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben.
Viele Menschen leiden unter anderem an Cholera, Diarrhoe und Darmkrankheiten, weil sie bakteriell verseuchtes Flusswasser trinken müssen. Die Brunnen, die noch nicht versiegt sind, pumpen Wasser zumeist aus Tiefen von ungefähr 100 Metern. Da sich im Ganges-Delta natürliches Arsenvorkommen in den oberen Gesteinsschichten befindet, fördern diese Brunnen Wasser, das Krankheiten wie Haut- und Nierenkrebs verursachen kann. Welch ein Privileg es ist, sauberes Trinkwasser zu haben, wird hier sehr deutlich.
Die eingangs beschriebene Aufmerksamkeit, die man als weißer Ausländer auf sich zieht, kann aber wiederum auch von Nutzen sein. So freute man sich allerorts über meine Anwesenheit, lud mich auf grünen Tee und Kekse ein und wollte über meine Herkunft und Reiseabsichten bescheid wissen. Darüber hinaus durfte ich mir alles anschauen, woran ich Interesse hatte. So kletterte ich auf Baustellen, Mobilfunkmasten und halbfertigen Gebäuden herum, durfte in die Häuser der Anwohner hinein und bekam eine Einzelführung durchs Parlament.
Eine Besonderheit war dabei der Besuch einer Näherei in Bandarban. Ohne zu fragen, betrat ich das Gelände, wurde von zwei Sicherheitsleuten aufgegriffen, die mich nach einer kurzen Befragung an den Chef übergaben, der mich dann voller Stolz herumführt. Ich durfte alles fotografieren und mich frei bewegen. Natürlich handelte es sich nicht um eine der maroden Nähereien, in denen Minderjährige zu Hungerlöhnen 16 Stunden lang arbeiten müssen.
Trotzdem war es eine sehr interessante Erfahrung, den Herstellungsprozess unserer Textilien direkt mitzuerleben. Dort werden am Fließband Klamotten zusammengenäht, gewaschen, gebügelt, verpackt, mit Preisschildern inklusive deutscher Umsatzsteuer etikettiert und in Container verladen. Genau diese Klamotten liegen ein paar Wochen später in deutschen Regalen – eine surreale Vorstellung in diesem Moment.
Meine Reise führte mich an einer Straße entlang, an der zu beiden Seiten kilometerweit unzählige alte Toiletten, gefolgt von Rettungsbooten, ein paar Schiffsschrauben, dann Metallplatten in jeglicher Größe und Bewehrungsstahl standen. Hier kommt ein Großteil des Stahls her, den die Bauindustrie so dringend benötigt. Diese Straße führte uns zu den Abwrackwerften bei Chittagong. Auf einer Länge von etwa sieben Kilometern werden dort seit den 70er Jahren außer Dienst gestellte Hochseeschiffe am Strand zerlegt.
Die Abwrackwerften haben es aufgrund der desolaten Arbeitszustände und des kaum vorhandenen Umweltschutzes weltweit zu trauriger Berühmtheit gebracht. Deshalb sind die Werftbetreiber mittlerweile sehr vorsichtig gegenüber Reportern geworden und das Gelände wurde weiträumig eingezäunt. Selbst für Nannu ist es gar nicht so einfach, einen Fischer zu finden, der bereit ist, uns für etwas Schmiergeld mit seinem Boot rauszufahren und über den Seeweg an die ausgemusterten Ozeanriesen zu manövrieren.
Mit dem bloßen Auge ließ sich erkennen, in welch unvorstellbarem Maße das Meer durch die Folgen dieser Arbeit verschmutzt wird. Soweit der Blick reicht, zieht sich ein Ölfilm über das Wasser. Ich erinnerte mich für einen Moment daran, wie ich in Deutschland so akribisch unseren Hausmüll trenne. Hier fließen Schadstoffe wie Schweröle, Asbest und PCB direkt ins offene Meer. Meist barfuß, mit bloßen Händen und ohne jegliche Schutzkleidung arbeiten hier Männer unter katastrophalen Bedingungen.
Höchstwahrscheinlich auch nach wie vor Minderjährige, die aufgrund ihrer Körpergröße gut an die schwer zugänglichen Stellen im Inneren der Schiffe herankommen. Der Anblick dieser Szene hatte etwas Apokalyptisches an sich: Überall flogen Funken von den Schweißarbeiten, mal krachte es laut, weil ein großes Metallstück ins Meer fällt, mal ist es nur ein dumpfes Geräusch aus dem Inneren der Schiffe, Rauch und Dreck ringsherum. Nach etwa einer Stunde müssen wir abdrehen, weil wir mittlerweile zu viel Aufmerksamkeit auf uns gezogen hatten. Bisher hatte uns die Küstenwache zwar noch nicht bemerkt, aber wir wollten es auch nicht darauf ankommen lassen.
Ob ich wieder in dieses Land reisen würde? Definitiv ja! Was das Reisen in Bangladesch für mich auch so reizvoll macht, ist die Tatsache, dass es einer der letzten weißen Flecken in Südostasien ist, der vom Massentourismus in seiner Ursprünglichkeit noch nicht gänzlich verzerrt wurde. Es gibt dort einfach keine Touristen-Hotspots, man schaut sich gemeinsam mit den Einheimischen die Wahrzeichen ihres Landes an. Es gibt kein Verkehrsnetz erster Klasse, man nutzt dieselben aufgebrauchten Busse und Boote wie die Bengalen auch.
Ich distanziere mich an dieser Stelle ausdrücklich von der Tatsache, dass sich viel zu oft Menschen aus der ersten Welt auf ihren Reisen durch die dritte Welt als ekelhafte Voyeure entpuppen. Ihnen dient die erlebte Differenzerfahrung scheinbar der Herstellung und Bestätigung der eigenen Identität.
Ist das Wegschauen also besser als das Hinschauen? Ich bin der Meinung, dass hinsehen und handeln ein guter Anfang sind, die aus den Fugen geratenen Verhältnisse unserer modernen Welt wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Bevor ich meine Kamera auf eine Person gerichtet habe, bin ich vorher zu ihr gegangen, habe mich und meine Absichten so gut es eben ging vorgestellt und gefragt, ob ich ein Foto machen darf.
Gelegentlich musste ich in dieser Konsequenz eben auch auf das eine oder andere Motiv verzichten und das ist gut so! Es gab Motive, die haben sich wegen ihrer verstörenden Wirkung zwar angeboten, um kurzfristig Aufmerksamkeit beim Betrachter zu generieren, die ich aufgrund von tiefem Respekt für meinen Gegenüber aber gar nicht erst zu fotografieren in Betracht gezogen habe.
Gerade der harte Schnitt, von einem der reichsten in eines der ärmsten Länder der Welt zu reisen, hat mich nachhaltig berührt und fällt mir immer noch schwer zu beschreiben. Es ist am Ende aber nicht das sogenannte Elend oder die materielle Armut der Menschen, die mich so tief berührt hat. Es ist viel mehr die unaufhaltsame Lebensfreude der Menschen vor Ort. Nie zuvor erlebte ich eine so herzliche, ehrliche und bedingungslose Gastfreundschaft wie in Bangladesch! Deshalb sage ich jedem, der mich fragt, wie man sich eine Reise nach Bangladesch vorstellen kann, Folgendes: Hart – aber unglaublich herzlich!
Da mich die Lebensumstände vor Ort nie ganz losgelassen haben, entschloss ich mich, mit meiner Frau und Freunden einen gemeinnützigen Verein zu gründen. Im Heimatdorf von Nannu bauen wir heute mit Hilfe von Spenden einen Brunnen und unterstützen die lokale Schule. Wer mehr über den Verein „MADE IN BANGLADESH e.V.“ erfahren möchte, besucht einfach unsere Webseite!