Ein Gullydeckel.
02. Dezember 2015 Lesezeit: ~7 Minuten

Bist Du noch ganz dicht?

„Bist du noch ganz gescheit?“ Diese Frage stelle ich mir tatsächlich, wenn ich auf Knien und Ellenbogen teilweise im Dreck herumrutsche, um Schachtabdeckungen zu fotografieren. Immer wieder kommt es vor, dass man mich anspricht oder ich sehnsüchtig von einem Hinter-der-Gardine-Lauerer erwartet und für einen Zuständigen der Stadt gehalten werde, der sich endlich um den seit Monaten kaputten Kanaldeckel „kümmern“ wird. Ich habe mich daran gewöhnt.

In der Regel interessieren sich Menschen für Kanaldeckel erst dann, wenn sie defekt sind – sie sich also unmittelbar von ihrer mangelnden Funktionsweise beeinträchtigt fühlen oder ihnen beispielsweise ein Schlüssel hineingefallen ist. So gehören Gullys normalerweise zu den Vertretern, die im täglichen Leben untergehen, unbeachtet bleiben.

Ein Gullydeckel unter einem Zebrastreifen.

Angefangen hat alles in der Bretagne, in dem pittoresken Städtchen Quimper. Bei der Rast vor einer kleinen Baguetterie, der französischen Lebenskunst frönend, wanderte mein Blick über das Pflaster der Rue Kéréon, hielt an der Kathedrale von Saint-Corentin inne und kehrte wieder zurück. Anders als alle anderen ignorierte ich das typische Fachwerk und die malerischen Erkerhäuschen.

Die Pflastersteine hatten es mir angetan. In diesem Moment entdeckte ich die Geometrie der Gosse. Das Formenspiel der Straße bestand aus Gittern und Rauten, Kreuzen, Quadraten, Kreisen, Rechtecken und mittendrin: Kolosse aus Stahl. Was 2005 begann, hat sich mittlerweile zum internationalen Fotokunst-Projekt „manhole covers“ entwickelt.

Deckel eines Wasserzuganges auf der Straße.

Ich nähere mich meinen Protagonisten für gewöhnlich in einer besonderen Perspektive. Dass ich dafür auf die Knie gehe, ist für mich mittlerweile selbstverständlich und auch Ausdruck einer wertschätzenden Haltung für meine Motive. Mal stehen die geometrischen Linien und Formen im Vordergrund und das eigentliche Motiv – der Kanaldeckel – rückt nach hinten.

Mal dominiert tatsächlich der Deckel und wie er mit seiner Umgebung interagiert. Für manche lege ich zuweilen eine Vollbremsung ein, weil sie mich während der Fahrt vom Wegesrand oder mitten auf der Straße im dichten Verkehr ansprechen. Ampelphasen kalkulierend, zwischen LKWs, hupenden Blechkarossen und rasenden Fahrradkurieren tänzelnd, bin ich dankbar für die Unterstützung einer Assistenz vom Bürgersteig aus.

Ein zugeschneiter Kanaldeckel.

Oft braucht es mehrere Anläufe ohne den Druck auf den Auslöser, um die finale Blickrichtung und die richtige Perspektive zu finden, denn jedes Motiv wird nur einmal „geschossen“. „No time for a second chance.“ Entweder der Ausschnitt sitzt oder die Aufnahme wird verworfen.

Obwohl in der Portraitfotografie gemeinhin ein Mensch im Vordergrund steht, genau genommen sein Gesicht, bezeichne ich meine Kanaldeckel-Fotografien auch als Portraits. Die Gullys und Schachtabdeckungen zeigen sich mir in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Der individuelle Charakter, Ausdruck und die Stimmung, in der sie sich befinden, rückt das Wesen von Gullydeckeln mit dem Formenspiel ihrer Umgebung in den Fokus.

Draufsicht auf eine Abdeckung in der Straße.

Wie bei einem menschlichen Portrait interessieren mich auch hier die Spuren des Lebens. Was beim Menschen das eingefallene Gesicht, ist auf der Straße der im Asphalt eingebrochene Kanaldeckel. Augenfalten = Materialverschleiß, Schönheitsoperation = Flickschusterei in Teer, verunglückte Straßenmarkierung = übertriebenes Makeup des Visagisten? Immer wieder drängen sich mir die Parallelen zum Menschen auf. Nicht ausgewogen und symmetrisch, sondern individuell und einzigartig.

Oft wird dem scheinbar banalen Kanaldeckel seine eigentliche Individualität erst durch die Aufmerksamkeit auf die Umgebung zuteil. Ob es der Glanz der Einsamkeit ist oder Spuren eines gelebten Kanaldeckellebens sichtbar werden – durch Zigarettenkippen, weggeworfene Kaffeebecher, Papierschnipsel, Bananenschalen, Laubgerippe, Glasscherben.

Ein Gully.

Alles gehört zu diesen Portraits und macht sie aus, wie die Bücher im Regal der Bibliothek, in denen Menschen portraitiert wurden. Ich nehme nie etwas weg, füge nichts hinzu. Einzig meine Perspektive arrangiert all das Weggeworfene, Angeschwemmte, Hängengebliebene – vergrößert, ausschnitthaft oder farblich akzentuiert – zu portraithafter Darstellung.

Und ja, es gibt auch Kommentare wie: „Warum haben Sie die Kippen vorher nicht weggefegt?“ oder „Das Bild ist ja ganz schön, aber dieses Bonbon-Papier zerstört die ganze Idylle!“ Manches an diesen Fotografien wirkt störend, irritierend – und genau das ist der Reiz, den ich in meinen Motiven sehe.

Ein Gully.

Je öfter und länger die Fotografien betrachtet werden, desto mehr kann man entdecken. Gerade die großformatigen Unikate von 1 x 1,5 m bringen zusätzlich die vielschichtige Tiefe des Unterirdischen an der Oberfläche. Die „manhole covers“ streifen quasi ihre Herkunft als industrielles Massenprodukt ab, entblößen ihren Charakter und beginnen sozusagen ein neues Leben.

Wenn ich durch meine Kamera blicke, kenne ich das Motiv bereits. Im Grunde zeige ich durch meinen Blick das, was der unbewusste Mensch sieht, aber nicht wahrnimmt. Die Kanaldeckel mutieren zu Kraftwerken, Kanälen und Monumenten. Sie sind skulptural, in sich ruhend. Welche Funktion sie in Wirklichkeit erfüllen, kann man bei der Betrachtung schnell vergessen. Vergleiche mit U-Boot-Bunkern, Keltenkreuzen, Kornkreisen oder Schmuckstücken sind schon gezogen worden.

Ein Gully mit grüner Farbmarkierung

Während manche Portraits eher schmeichelhaft sind, weil Grashalme sich Bahn brechen, Blumen sprießen und sich Leben zeigt, erkennt man bei anderen erst durch die Betonung ihres Umfeldes ihr wahres Gesicht. Nachlässig im Asphalt versunken, durch Hinterlassenschaften der Gesellschaft verdreckt oder messerscharf abgefahren: Ich lade ein, zu sehen, was getreten, verachtet und überfahren wird.

Ein zusätzlicher Aspekt wird klar, wenn man sich zudem bewusst macht, was sich in den tieferen Ebenen befindet, wie wichtig die Versorgungssysteme für unsere Zivilisation sind. Für mich ist das wie bei einem Menschen-Portrait eben auch noch ein Blick in das Innere meiner Motive.

Ein gelb umrandeter Deckel  auf einem Zebrastreifen.

„Wer hängt sich denn schon einen Kanaldeckel ins Wohnzimmer?“ Wenn dann ein Kanaldeckel-Fotografie-Besitzer bekennend „Ich!“ ausruft und mit Begeisterung von der ersten Begegnung mit seinem Deckel erzählt, von der Leidenschaft und den Emotionen, wird klar, dass jede Fotografie mehr ist als reiner Wandschmuck. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt „Für jeden Topf gibt es einen Deckel“. Bei mir heißt es: Jeder Mensch hat „seinen“ Deckel.

Vor Kurzem habe ich mit Heike Winter, einer Schriftstellerin aus Düsseldorf, ein Buch namens „StreetLyrics“* herausgegeben, das schottische und deutsche Kanaldeckel zeigt. Sie stellte meinen Fotografien Texte an die Seite, die eine weitere Dimension erahnen lassen – mal heiter und besinnlich, mal aufrüttelnd, verwirrend oder berührend.

Ein Mensch beugt sich vor einen Gulli und macht ein Foto.

Die Ebenen verschwimmen, Botschaften werden noch klarer und laden ein, sich ein eigenes Bild zu machen. Auch wenn mir bisher an die 2.000 Kanaldeckel in aller Welt Modell gestanden haben und ich noch einige andere Themen künstlerisch bearbeite, so werden mich die Kanaldeckel vermutlich mein Leben lang begleiten.

* Das ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas bestellt, erhält kwerfeldein eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.

21 Kommentare

Die Kommentare dieses Artikels sind geschlossen. ~ Die Redaktion

  1. Das Sammeln von Dingen wie z.B. Muscheln, Briefmarken, Streichholzschachteln oder Ähnlichem ist ein nettes Hobby und das gibts schon seit ein paar Jahrhunderten. Sammeln mit der Kamera ist auch nicht mehr ganz neu, hat aber den Vorteil, dass man problemlos auch unhandliche Dingen Sammeln kann wie z.B. Telefonzellen, oder hier eben Gullideckel.
    Warum letzteres ein „internationalen Fotokunst-Projekt“ ist, erschliesst sich mir nicht.

    • Hallo Banause,
      vordergündig erschließt sich vielleicht nicht jedem sofort was hinter dem Projekt steht. Daher auch die Zusammenarbeit mit Heike Winter für das Buch ‚StreetLyrics‘, in dem die Fotografien mit Gedichten eine zusätzliche Ebene der Wahrnehmung an die Seite gestellt bekommen.

      Die Arbeiten gehen definitiv über das ‚bloße Sammeln‘ hinaus, was man auch an den unterschiedlichen Perspektiven und Darstellungsgrößen sehen kann. Die Bechers haben da schon eher ’nur‘ gesammelt.
      hier noch ein Link zu einem Text von Kunsthistoriker Dr. Hermann Ühlein zu den Manhole Covers:
      http://www.stephan-maria-aust.de/fileadmin/user_upload/manhole_covers/Manhole_Covers_Dr_Hermann_Uehlein.pdf

      Alledings MUSS es nicht jedem gefallen und es MUSS auch nicht jeder verstehen was ich mit meinen Arbeiten erreichen will denn Kust ist immer auch sehr individuell.

  2. es ist die kleine welt,
    in der die große ihre probe hält.
    die geometrien von gullideckeln folgen dieser maxime.
    wie überhaupt alles im leben eines frage der skalierung ist.
    feine story!
    servus,
    werner aus der hochsteiermark

  3. Die Verbindung vom Kanaldeckel bis zu Goethes Faust und Thomas Manns Doktor Faustus im Text von Dr. Hermann Ühlein erscheint mir arg überdehnt. Es sind halt doch Kanaldeckel, wenn auch gut fotografiert.

    • Hallo Chilled Cat,
      es ist eben „nur“ ein Düsenjäger, wenn auch gut gemalt von Gehard Richter…
      Wann gestehe ich einem Bild Tiefe zu? Nur wenn es abstrakt ist?
      Oder ist Forografie persé keine Kunst, weil sie „nur“ abbildet?

      Das ist wahrlich ein Feld, über das sich trefflich diskutieren lässt.
      Ich lasse jedem seine Überzeugung ;-)
      Danke für Deine Meinung

  4. uff, Kanaldeckel sind doch tatsächlich ‚fotogen‘. Ich werde mir das Buch besorgen, bin neugierig, was Kanaldeckel-Poesie ist. Cool wäre gewesen, wenn ihr auch mal so ein Gedichte gebracht hättet.

    • Hallo Bertram,
      danke für Deinen Kommentar. Als Beispiel hier das Gedicht zu ‚Essen zwei‘, dem Deckel mit dem diagonalen gelben Streifen und den Schienen:

      parallel sind manche wege
      doch welten liegen dazwischen
      verdrehst du dich
      verbieg ich mich
      wir kommen zusammen
      besser nicht
      ©Heike Winter

      Some ways run parallel
      across different planes
      twisting your existence
      with my reality
      Converging?
      I’d rather not
      ©Magz Macleod

      Tha slighean a tha co-shinnte
      saoghail eatorra
      cur charan dhìom
      gam lùbadh fhìn
      Fuirich bhuam
      ©Gillebride Mac IlleMhaoil

      • eindrucksvoll. das zeigt in besonderem Maße, dass es dir nicht nur um den Kanaldeckel geht, bzw. wie die Umgebung interagiert. Bei Facebook würdest du jetzt ein Like bekommen :-)

  5. Mir gefällt der philosophische Ansatz der sich hinter den Bildern verbirgt.
    Wenn ich diese Bilder sehe, kann ich die Faszination zu den Objekten der Begierde durchaus nachvollziehen. Man muss im Leben einfach manchmal über den Kanaldeckelrand hinaus blicken.
    Auch ein schönes Beispiel für Transformationen von industriellen ‚Altagsgegenständen‘ zur Kunst sind die in den 1970ziger Jahren enstandenen ‚Müllpassagen‘ von HR Giger.
    Danke für’s zeigen!
    //Matz

  6. coole Serie und so viel zu entdecken. Mir gefallen die Stadt-bezogenen Kanaldeckel sehr gut, wo man sieht, dass sich jemand Mühe beim Gestalten gemacht hat. Es scheint also einen kleinen Kreis von Eingeschworenen zu geben, die die Man-Holes ehren :-)
    Ich steh auf Mülltonnen, da muss man sich nicht so weit bücken :-)
    Gruß,
    Stephan

    • Danke für Deinen Kommentar Stephan,
      ich denke auch bei Mülltonnen kann es sehr darauf ankommen, in welcher Umgebung sie stehen und was sich dort abspielt, oder abgespielt hat. Auch das sind spannende Aspekte, abgesehen von den verschiedenen Formen.

  7. Kanaldeckel – toll
    „Motivfindung“ ist ein Talent, welches wenigen Fotografen gegeben ist.
    Stephan-Maria-Aust hat das Auge für
    das Besondere
    das Notwendige
    das Lebendige
    das Vergängliche.

    Danke

  8. Das ist ja tatsächlich Kunst. Der Kanaldeckel selbst ja nun irgendwie nicht, aber die Idee, die dahinterliegt, gefällt mir ausnehmend gut. Und das macht die Kunst ja aus. Eine Idee und Konzeption. Toll, dass man so mal einen Einblick bekommt, wie ‚Kunst‘ funktioniert / funktionieren kann.

  9. Hallo Stephan-Maria,
    auch ich fotografiere bereits seit 2000 Schachtabdeckungen, allerdings sind die ungeputzten die Ausnahme. Bei mir hat es angefangen als ich die erste digitale Camera erstanden hatte und Alles und Jedes abgelichtet wurde. In Wilhelmshaven ist mir aufgefallen, daß es Kanaldeckel mit Motiven gibt- ab da hat mich der Virus gepackt. Meine Sammlung beträgt inzwischen weit über 1000 Stück. Auch habe ich mich an Ausstellungen beteiligt, bzw. auch in Solo gezeigt.
    Es freut mich, daß Du quasi dem gleichen Hobby frönst. Auch greife ich gerne auf, mich einmal den Deckeln in ihrem unbearbeitetem Umfeld zu nähern. Bisher legte ich besonderen Wert auf bestmögliches Aussehen und habe geputzt und am PC autentisch nachbearbeitet.
    Man hat mich wegen der Ausdauer schon einen NERD genannt.
    In diesem Sinne
    Gut Licht und viel neue Motive