Bist Du noch ganz dicht?
„Bist du noch ganz gescheit?“ Diese Frage stelle ich mir tatsächlich, wenn ich auf Knien und Ellenbogen teilweise im Dreck herumrutsche, um Schachtabdeckungen zu fotografieren. Immer wieder kommt es vor, dass man mich anspricht oder ich sehnsüchtig von einem Hinter-der-Gardine-Lauerer erwartet und für einen Zuständigen der Stadt gehalten werde, der sich endlich um den seit Monaten kaputten Kanaldeckel „kümmern“ wird. Ich habe mich daran gewöhnt.
In der Regel interessieren sich Menschen für Kanaldeckel erst dann, wenn sie defekt sind – sie sich also unmittelbar von ihrer mangelnden Funktionsweise beeinträchtigt fühlen oder ihnen beispielsweise ein Schlüssel hineingefallen ist. So gehören Gullys normalerweise zu den Vertretern, die im täglichen Leben untergehen, unbeachtet bleiben.
Angefangen hat alles in der Bretagne, in dem pittoresken Städtchen Quimper. Bei der Rast vor einer kleinen Baguetterie, der französischen Lebenskunst frönend, wanderte mein Blick über das Pflaster der Rue Kéréon, hielt an der Kathedrale von Saint-Corentin inne und kehrte wieder zurück. Anders als alle anderen ignorierte ich das typische Fachwerk und die malerischen Erkerhäuschen.
Die Pflastersteine hatten es mir angetan. In diesem Moment entdeckte ich die Geometrie der Gosse. Das Formenspiel der Straße bestand aus Gittern und Rauten, Kreuzen, Quadraten, Kreisen, Rechtecken und mittendrin: Kolosse aus Stahl. Was 2005 begann, hat sich mittlerweile zum internationalen Fotokunst-Projekt „manhole covers“ entwickelt.
Ich nähere mich meinen Protagonisten für gewöhnlich in einer besonderen Perspektive. Dass ich dafür auf die Knie gehe, ist für mich mittlerweile selbstverständlich und auch Ausdruck einer wertschätzenden Haltung für meine Motive. Mal stehen die geometrischen Linien und Formen im Vordergrund und das eigentliche Motiv – der Kanaldeckel – rückt nach hinten.
Mal dominiert tatsächlich der Deckel und wie er mit seiner Umgebung interagiert. Für manche lege ich zuweilen eine Vollbremsung ein, weil sie mich während der Fahrt vom Wegesrand oder mitten auf der Straße im dichten Verkehr ansprechen. Ampelphasen kalkulierend, zwischen LKWs, hupenden Blechkarossen und rasenden Fahrradkurieren tänzelnd, bin ich dankbar für die Unterstützung einer Assistenz vom Bürgersteig aus.
Oft braucht es mehrere Anläufe ohne den Druck auf den Auslöser, um die finale Blickrichtung und die richtige Perspektive zu finden, denn jedes Motiv wird nur einmal „geschossen“. „No time for a second chance.“ Entweder der Ausschnitt sitzt oder die Aufnahme wird verworfen.
Obwohl in der Portraitfotografie gemeinhin ein Mensch im Vordergrund steht, genau genommen sein Gesicht, bezeichne ich meine Kanaldeckel-Fotografien auch als Portraits. Die Gullys und Schachtabdeckungen zeigen sich mir in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Der individuelle Charakter, Ausdruck und die Stimmung, in der sie sich befinden, rückt das Wesen von Gullydeckeln mit dem Formenspiel ihrer Umgebung in den Fokus.
Wie bei einem menschlichen Portrait interessieren mich auch hier die Spuren des Lebens. Was beim Menschen das eingefallene Gesicht, ist auf der Straße der im Asphalt eingebrochene Kanaldeckel. Augenfalten = Materialverschleiß, Schönheitsoperation = Flickschusterei in Teer, verunglückte Straßenmarkierung = übertriebenes Makeup des Visagisten? Immer wieder drängen sich mir die Parallelen zum Menschen auf. Nicht ausgewogen und symmetrisch, sondern individuell und einzigartig.
Oft wird dem scheinbar banalen Kanaldeckel seine eigentliche Individualität erst durch die Aufmerksamkeit auf die Umgebung zuteil. Ob es der Glanz der Einsamkeit ist oder Spuren eines gelebten Kanaldeckellebens sichtbar werden – durch Zigarettenkippen, weggeworfene Kaffeebecher, Papierschnipsel, Bananenschalen, Laubgerippe, Glasscherben.
Alles gehört zu diesen Portraits und macht sie aus, wie die Bücher im Regal der Bibliothek, in denen Menschen portraitiert wurden. Ich nehme nie etwas weg, füge nichts hinzu. Einzig meine Perspektive arrangiert all das Weggeworfene, Angeschwemmte, Hängengebliebene – vergrößert, ausschnitthaft oder farblich akzentuiert – zu portraithafter Darstellung.
Und ja, es gibt auch Kommentare wie: „Warum haben Sie die Kippen vorher nicht weggefegt?“ oder „Das Bild ist ja ganz schön, aber dieses Bonbon-Papier zerstört die ganze Idylle!“ Manches an diesen Fotografien wirkt störend, irritierend – und genau das ist der Reiz, den ich in meinen Motiven sehe.
Je öfter und länger die Fotografien betrachtet werden, desto mehr kann man entdecken. Gerade die großformatigen Unikate von 1 x 1,5 m bringen zusätzlich die vielschichtige Tiefe des Unterirdischen an der Oberfläche. Die „manhole covers“ streifen quasi ihre Herkunft als industrielles Massenprodukt ab, entblößen ihren Charakter und beginnen sozusagen ein neues Leben.
Wenn ich durch meine Kamera blicke, kenne ich das Motiv bereits. Im Grunde zeige ich durch meinen Blick das, was der unbewusste Mensch sieht, aber nicht wahrnimmt. Die Kanaldeckel mutieren zu Kraftwerken, Kanälen und Monumenten. Sie sind skulptural, in sich ruhend. Welche Funktion sie in Wirklichkeit erfüllen, kann man bei der Betrachtung schnell vergessen. Vergleiche mit U-Boot-Bunkern, Keltenkreuzen, Kornkreisen oder Schmuckstücken sind schon gezogen worden.
Während manche Portraits eher schmeichelhaft sind, weil Grashalme sich Bahn brechen, Blumen sprießen und sich Leben zeigt, erkennt man bei anderen erst durch die Betonung ihres Umfeldes ihr wahres Gesicht. Nachlässig im Asphalt versunken, durch Hinterlassenschaften der Gesellschaft verdreckt oder messerscharf abgefahren: Ich lade ein, zu sehen, was getreten, verachtet und überfahren wird.
Ein zusätzlicher Aspekt wird klar, wenn man sich zudem bewusst macht, was sich in den tieferen Ebenen befindet, wie wichtig die Versorgungssysteme für unsere Zivilisation sind. Für mich ist das wie bei einem Menschen-Portrait eben auch noch ein Blick in das Innere meiner Motive.
„Wer hängt sich denn schon einen Kanaldeckel ins Wohnzimmer?“ Wenn dann ein Kanaldeckel-Fotografie-Besitzer bekennend „Ich!“ ausruft und mit Begeisterung von der ersten Begegnung mit seinem Deckel erzählt, von der Leidenschaft und den Emotionen, wird klar, dass jede Fotografie mehr ist als reiner Wandschmuck. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt „Für jeden Topf gibt es einen Deckel“. Bei mir heißt es: Jeder Mensch hat „seinen“ Deckel.
Vor Kurzem habe ich mit Heike Winter, einer Schriftstellerin aus Düsseldorf, ein Buch namens „StreetLyrics“* herausgegeben, das schottische und deutsche Kanaldeckel zeigt. Sie stellte meinen Fotografien Texte an die Seite, die eine weitere Dimension erahnen lassen – mal heiter und besinnlich, mal aufrüttelnd, verwirrend oder berührend.
Die Ebenen verschwimmen, Botschaften werden noch klarer und laden ein, sich ein eigenes Bild zu machen. Auch wenn mir bisher an die 2.000 Kanaldeckel in aller Welt Modell gestanden haben und ich noch einige andere Themen künstlerisch bearbeite, so werden mich die Kanaldeckel vermutlich mein Leben lang begleiten.
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