Privet Germania
Ira Thiessen ist Absolventin der Ostkreuzschule und befasst sich in ihrer Abschlussarbeit mit Menschen, die zwischen zwei Kulturen leben. Ihre Arbeit regt zum Nachdenken über die deutsch-russische Kultur im Speziellen und über hybride Identitäten im Allgemeinen an. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Einwanderungsdebatte ist die Serie hochaktuell. Wir stellen Euch die Fotografin und ihre Serie exklusiv vor.
Kultur zeichnet sich durch bestimmte Erlebens- und Verhaltensweisen aus, die Mitglieder eines kulturellen Systems erlernen, teilen und weitergeben. Anhand spezieller Bräuche und Traditionen wird das besonders deutlich. Solche kulturell geprägten Handlungen bestimmen die Identität eines Menschen.
Was aber passiert, wenn die Wurzeln eines Menschen verpflanzt werden und sich an neue Umstände anpassen müssen? Dieser Frage widmet sich Ira Thiessen in ihrem Projekt „Privet Germania“.
Der Hintergrund zur Serie ist persönlich. In Kirgisien im Jahre 1983 geboren, kam die Fotografin im Alter von sechs Jahren nach Deutschland. Zu den sogenannten Spätaussieldern werden Menschen gezählt, die als deutsche Staatsangehörige in den ehemals deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie geboren wurden.
Die Spätaussielder sind von ihrer Vergangenheit im Sozialismus der Sowjetunion geprägt. In Deutschland bilden sich dann oft spezifische Formen ihrer Kultur heraus. Sie sind weder völlig russisch, noch ganz deutsch. Es sind hybride Kulturen, die über viele Jahre entstehen, begründet in der Suche nach einer neuen Identität.
Die Menschen, die Ira Thiessen abbildet, hat sie über persönliche Kontakte, Foren im Internet und Zeitungen gefunden. Sie hat deutsch-russische Veranstaltungen, Schulen und Institute besucht und ihnen von ihrem Projekt erzählt.
Darunter sind Menschen, die sie vorher nicht gekannt hat, aber auch Familienangehörige und Freunde. Alle Beteiligten hat sie in ihrem persönlichen Lebensraum portraitiert, da dieser einen intimen Blick auf die Lebenswelten der Personen gewährt.
Die im Rahmen dieses Projekts abgebildeten Personen kommen aus Nordrhein-Westfalen und Berlin. Dadurch schlägt die Fotografin auch eine Brücke zwischen dem Ort, aus dem sie kommt und dem Ort, an dem sie derzeit lebt.
In der Umsetzung mit einer analogen Kamera verbindet Ira Thiessen in ihrer Arbeit Elemente aus der Malerei, Theater und der Atelierfotografie miteinander. Dazu Bedarf es viel Zeit und Intimität mit den Portraitierten. Sie verabredete sich mehrmals mit den Personen, um sie dann in ihren persönlichen Lebensräumen zu zeigen.
Das Zusammenspiel von Requisiten und dem immer vorhandenen Stoffhintergrund, der wie ein Fremdkörper bzw. Störelement wirkt, unterstreicht die Individualität der Abgebildeten und isoliert sie aus ihrer Privatsphäre, wobei die Pose den Fotografierten selbst überlassen wurde.
Diese absichtliche Sichtbarmachung der Inszenierung erschafft einen „Bilderrahmen“: Die Protagonisten sind umrahmt von ihrer Umgebung, die nicht nur als kultureller, sondern auch formeller Rahmen erscheint – die Kompositionen erinnern an die von Gemälden.
Aus diesen Gemälden können Elemente beider Kulturen abgelesen werden. Ira Thiessen erklärt:
Jede Nation hat ihre eigenen kulturellen Ausdrucksweisen, die anhand von Bräuchen, Kleidung, Sprache, Verhaltens- und Denkweisen lesbar ist. Der Körper allein ist das, was alle Menschen gemeinsam haben. Er ist in allen Kulturen die organische Existenzgrundlage jedes Menschen und somit das, was das Fremde mit dem Eigenen und alle Teilnehmer einer interkulturellen Begegnung verbindet. Dennoch kann es nie eine hundertprozentige Zugehörigkeit geben.
Um sich einer bestimmten Kultur anzunähern, so berichtet die Fotografin, bedarf es einer Auseinandersetzung mit Bedingungen und Hintergründen. Zentrales Mittel sei der persönliche Kontakt, denn nur wen man kenne, den könne man verstehen.
Ich habe Ira gefragt, ob sie während des Projektes eine besonders eindrückliche Erfahrung mit symbolischen Wert gemacht hat. Sie erzählt:
Ich erinnere mich vor allem an das Mädchen mit dem blauen Kleid. Das erste Mal portraitierte ich sie vor zwei Jahren. Für meine Arbeit wollte ich sie erneut in dem blauen Kleid fotografieren, allerdings war sie mittlerweile aus dem Kleid herausgewachsen. Ich schnitt das Kleid hinten auf und klammerte es wieder zu, so dass ich sie ein letztes Mal darin fotografieren konnte.
Kinder von Spätaussiedlern sind Teil zweier Kulturen. Aus der einen mag man zeitweise herauswachsen, ähnlich wie das Mädchen aus ihrem Kleid.
Ira Thiessen schildert, dass sie früher ganz selbstverständlich Teil der russisch-deutschen Kultur war. Aber erst im Rahmen ihrer Arbeit sei ihr bewusst geworden, was charakteristisch deutsch, russisch oder deutsch-russisch ist.
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