Schottland: Entrückte Welt
Nachdem ich mit Anja die Einzigartigkeit dieses Landes schon letztes Jahr, wenn auch nur für einen kurzen Moment, erfahren durfte, war die Zeit zurück in Berlin furchtbar eintönig und geprägt von Sehnsucht und Fernweh. So konnten wir gar nicht anders und buchten vier Wochen nach unserer Schottlandreise erneut einen Flug, Hütte und Auto für September 2015.
Dieses Mal für zwei Wochen – länger und intensiver. Auch jetzt, zwei Monate danach, fällt es nicht leicht, das Gefühlte, Erlebte und Gesehene konkret in Worte zu fassen. Um es gleich vorweg zu nehmen: War ich letztes Jahr noch mit meiner kleinen handlichen Fuji X100S unterwegs, habe ich mich dieses Mal für die Nikon D700 mit 35-mm-Optik entschieden.
Auch wenn das gute Stück um einiges mehr wiegt, habe ich es nicht einmal bereut, die alte Dame mitgenommen zu haben. Für das Gefühl, nicht mehr nur ein teures Stück Plastik in der Hand zu haben, wie im Jahr zuvor, war ich mehr als dankbar und Vergleichspunkte wie Schärfe oder gar Autofokus im Vergleich zur Fuji sollte man gar nicht erst heranziehen.
Ehe wir uns versahen, verging dieses Jahr doch so unglaublich schnell. Wir lebten mehr vom Moment der Abreise zum Moment des erneuten Ankommens als dieses Jahr wirklich nachhaltig und aufmerksam erfahren zu haben. Doch dieser Moment der Vertrautheit, als würde man nach langer Zeit „heim gekommen“ sein, ist unbeschreiblich.
Viele mögen das als romantisch verklärte Gefühlsduselei abtun, doch wem ein Land, eine Stadt oder sei es nur ein kleiner Fleck im Nirgendwo so den Kopf verdreht hat, der wird wissen, was gemeint ist. So konnten wir nicht anders und sind auf dem Weg vom Flughafen zu unserer Hütte gefühlt alle hundert Meter stehen geblieben, nachdem wir die Bridge of Orchy überquerten.
Auch wenn wir das Bild schon kannten, so war es unglaublich wohltuend, diese triste und doch so lebendige Landschaft erneut in uns aufzunehmen. Dieses Gefühl, einen „alten Freund“ wiederzusehen, wäre wohl auch zehn Jahre des Wartens wert.
Mit sehr viel mehr Planung als noch im letzten Jahr machten wir uns am ersten Tag zur Rhumach Halbinsel in der Nähe von Arisaig auf. Nach unserer ersten vertraut holprigen Fahrt auf einer Singletrack Road führte ein kleiner Sandweg ein paar Kilometer vorbei an einem einsamen Steincottage, bis er sich auf einem Hochplateau verlor.
Und da war er wieder: Der Moment, in dem man diese völlige Abgeschiedenheit realisiert. Die Freiheit, jeden möglichen Winkel abseits der Pfade zu erkunden. Der Forscherdrang belohnte uns mit einer wundervollen Aussicht auf den Atlantik. Schon letztes Jahr hat uns die Isle of Skye jeglicher Sinne beraubt. Wir wussten, dass wir uns dieses Mal umso mehr Zeit nehmen mussten, um die Eigenartigkeit dieser Insel zu fassen.
Während das schottische Festland von monumentaler Landschaft nur so strotzt, entwickelte Skye für mich eine ganz eigene Art, diese archaische Würde aufzubringen. Die Natur scheint sich hier komplett anders entwickelt zu haben, während Berge und Täler mythisch entrückt wirken. Es entsteht der Eindruck, als ob die Insel von der Welt vergessen wurde und so ihrem ganz eigenen eigenbrötlerischen Zyklus folgt, wie ein Eremit aus Stein.
Die erste Reise führte uns dann über Quiraing hin zu den Fairy Glens. Quiraing verdeutlicht unglaublich eindrucksvoll die oben beschriebene Eigentümlichkeit der Natur. Während wir den Weg abseits der Touristenroute Richtung Bioda Buidhe entlang der Trotternish Ridge liefen, erstreckte sich vor uns die monumentale Ödnis von Druim Airigh nan Seileach.
Diese unendliche Weite kann einem nur ansatzweise bewusst werden und allein dafür lohnt sich die weite Reise in den Norden der Insel. Weiter ging es, erneut, zu Faiy Glens im Westen, die wir noch einmal um der nostalgischen Erinnerung Willen besuchen wollten.
Wieder einmal kommt man nicht umhin, sich über die eigentümliche Struktur der kleinen Hills zu wundern, die entgegen natürlicher Betrachtungsweise einem gewissen Glanz menschlicher Architektur gleichen, bei genauerer Betrachtung jedoch eine eigentümlich, mystische Verformung annehmen.
Unser nächstes Ziel sollte eigentlich eine Gratwanderung auf den Garbh Bheinn am Loch Leven werden. Man kann eine Wanderroute noch so akribisch planen, wenn man jedoch einmal zu spät links abbiegt, ist der ganze Plan dahin. Im Nachhinein jedoch zu unserem Glück.
Während der geplante Weg eigentlich links auf die Spitze des Berges zulief, durchquerten wir den Gleann a’ Chaoleis bis auf 800 m und fanden uns zwischen Garb Bheinn und Ceujm Eigin wieder. Man kann das Gefühl schwer beschreiben, wenn man ins Tal hinunterblickt und sich eine riesige, das Tal überspannende Nebelwand langsam auf einen zuschiebt.
Den Abstieg versuchten wir dann doch irgendwie über die vorher gedachte Route zu nehmen, was leichter gesagt als getan war, da wir nur die Möglichkeit hatten, über einen steilen mit Heidekraut bewachsenen Berghang den Weg zurück zu nehmen.
Die zweite Reise zur Isle of Skye brachte uns zurück an den atlantischen Ozean im Westen der Insel und in den Süden zu den Fairy Pools, am Fuße der Cuillins. Als wir letztes Jahr Neist Point Lighthouse an der Westküste aufsuchten, völlig gebannt von der ewigen Weite des Ozeans, eingerahmt von der einer massiven Steilküste, wussten wir, dass die Westküste der Insel zu den wohl eindrucksvollsten Orten des Landes gehörte.
Erneut an der Westküste angekommen, wich das anfängliche Gefühl von unbeschreiblichem Erstaunen schnell dem Empfinden völliger Einsamkeit. Der Realisierung, wie bedeutungslos wir doch sind, wie unnötig wir uns selbst die Zeit rauben und wie schnell man uns wieder vergessen wird. Das Gefühl, am Rande der Welt zu stehen, den Kopf frei von Ballast in den Sturm legen und die salzige Luft auf der Zunge zu spüren.
So sehr dieser Moment mir gezeigt hat, wie klein der Wert unseres Lebens doch ist, kann die Seele umso mehr von dieser furchteinflößenden Kraft aufnehmen. Weniger über den Sinn nachdenken, als es doch Sinn ist, einfach nur zu leben. Der Anblick peitschender Wellen, die ohrenbetäubend gegen den Waterstein Head krachen, macht wohl jeden philosophisch.
Weiter ging es zu den Fairypools im Süden der Insel. Letztes Jahr schreckte uns der Touristenandrang ab und wir machten kehrt, doch der Ausblick auf die nebelverhangenen Cuillins schien dieses Mal einige davon abzuhalten, das kleine Wunder schottischer Vielfalt zu erfahren. Der Weg zu den Pools ist an sich unspektakulär und führt entlang des River Brittles über kleine Wasserfälle bis zur Quelle.
Je näher man jedoch dem imposanten Sgurr an Fheadain kommt, desto ehrfürchtiger scheint der Blick über die fahle Landschaft zu schweifen. Man kommt nicht umhin, sich beim Anblick der Wolkenverhangen Cuillins am Ende des Glens an Szenen aus Hobbitgeschichten erinnert zu fühlen.
Ein Höhepunkt der Reise war aber vor allem die Gratwanderung auf dem Buchaille Etive Beag in der Nähe von Glen Coe. Der stundenlange Aufstieg kostete vor allem Geduld und Nerven. Angekommen, belohnte uns eine dichte Wolkenwand mit keinerlei Ausblick. Etwas enttäuscht machten wir uns trotzdem weiter auf den Weg zur Spitze. Regen und dicker Nebel unsere ständigen Begleiter.
Erst als wir uns auf den Rückweg vom Cairn machten, zog die Nebelwand in Sekunden davon und gab den Blick auf das frei, was wir erklommen hatten. Uns war zu keiner Zeit bewusst, einen so wunderschönen und schmalen Grat entlang gewandert zu sein und ich konnte mein Glück kaum fassen. Der Nebel zog an uns vorbei und umrahmte die umliegenden Berge wie Wellen in einem Gemälde. Selten habe ich schönere Momente erlebt als hier.
Die letzte Reise auf die Isle of Skye gehörte zu den denkwürdigsten. Wenn man einen Reisebericht über diese Insel schreibt, so schafft man es nicht, von Superlativen abzusehen. Wir fuhren in Richtung Fairy Pools, den Glen Brittle weiter entlang, bis die Straße uns im Süden der Insel wieder ans Meer führte. Angekommen machten wir uns auf den Weg zu den Ausläufern der Cuillins, um auf ein von einem Bergmassiv umschlossenen Lochan zu steigen, der Coire Lagan.
Der Aufstieg, der anfangs zwar langsam ansteigend begann, wurde dieses Mal durch eine besonders blutrünstig gestimmte Anzahl von Midges erschwert. Der Weg stieg weiter an, bis er in einen nicht mehr zu erkennenden Geröllhang überging, an dessen Ende eine Felswand mit einigen Lücken stand. Ungläubig, ob wir es je nach oben schaffen würden, erreichten wir auf 600 Metern Höhe dennoch unser Ziel.
Und auf einmal war er da: Ein kleiner Lochan, tiefblau, eingerahmt von Sgurr Dearg, dessen Spitze immer noch bedrohend im Nebel zu schlafen schien. Ich weiß nicht, wie lange wir dort oben waren, aber es müssen einige Stunden gewesen sein, in denen wir uns nicht von dort wegbewegen konnten, da dieser kleine Loch so unwirklich in dieser toten Landschaft wirkte und eine eigenartige Mystik von ihm ausging, dessen Bann einen nicht wieder loslässt.
So sollten auch diese zwei Wochen, auf die wir ein Jahr lang gewartet haben, wieder viel zu schnell vorbeigehen. Doch selbst in 14 Tagen wird man nicht ansatzweise genug von dieser kleinen entlegenen Welt gesehen haben, um sich ein Bild davon machen zu können.
Dieses Land ist so erfrischend unverbraucht und gibt Großstadtkindern wie uns so viel Energie und vor allem Demut zurück, die man so schnell wieder verlieren und vergessen kann. Auch wenn unser Ziel nächstes Jahr ein anderes sein wird, so haben wir in Schottland noch immer unsere zweite Heimat gefunden.