Zwei Schwestern unterhalten sich.
07. Januar 2015 Lesezeit: ~5 Minuten

Zwei Schwestern

Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder Geschichten mag. Früher war es meine Mutter, die sich zu mir ans Bett setzte, mich lange anschaute und mit dem Satz begann: „Einst vor vielen Jahren …“

Und ich wollte gar nicht einschlafen, weil die Wesen, die sie erschuf, in meinem Kopf so lebendig wurden. Sie erhielten ein Eigenleben und wann immer die Realität zu grau, zu traurig oder sogar grausam wurde, schlüpfte ich in mich und setzte mich mit meinen alten Bekannten aus Kindertagen an einen Tisch zum Kaffeekränzchen.

Heute trage ich meine Kamera mit mir herum und kann die Wesen aus meinem Kopf nach draußen holen. Und eine dieser Geschichte möchte ich Euch heute erzählen:

Im Sommer des letzten Jahres hatten wir das Glück, einen Garten zu bekommen. Also einen echten, mit fruchtbarem Boden, Kirsch- und Apfelbäumen und einem kleinen Haus darauf. Ich war sofort verliebt in dieses Stück Land. Die Hecken wuchsen über den alten Zaun und Wildblumen hatten sich im gesamten Garten selbst ausgesät.

Von außen konnte man kaum das Innere des Gartens erblicken. Die Menschen aus den anderen Gärten erzählten uns von den Vorbesitzern. Keiner hielt den Garten ein halbes Jahr, immer wieder kam es zum Zank zwischen den Paaren, die sich ebenfalls in diesen Garten verliebten und keiner schaffte es, die Wildheit des Gartens zu zähmen.

zwei Mädchen hinter einer Gardine.

Zwei Mädchen sitzen auf einem Sessel und schlafen.

Erst unsere direkte Nachbarin rückte dann eines Nachmittags mit der Wahrheit heraus, als wir gerade versuchten, den Girsch aus dem Boden zu ziehen. Es war die Geschichte eines jungen Paares, das sich sehr liebte und diesen Garten erschuf, es muss so Anfang der 1920er Jahre gewesen sein, als die Welt noch nichts wusste vom kommenden Krieg. Sie bauten das Haus und zogen ihre beiden Töchter hier auf, wie Sämlinge aus dem Boden.

Nun aber stand das Haus schon lange leer, die Bäume waren ungepflegt und auch der Boden war voller Unkraut. Den Menschen war das Haus und der Garten schon längst nicht mehr geheuer. Einige wollten Bewegungen gesehen und andere sogar Geräusche gehört haben. Und auch die Äpfel und die Kirschen verschwanden manchmal einfach von den Bäumen.

Aber mal ehrlich, so hinter vorgehaltener Hand, in welche Mägen die Äpfel und Kirschen tatsächlich wanderten, das kann sich jeder mit hochgezogener Augenbraue selbst beantworten. Ich glaubte jedenfalls nur die Hälfte von dem Geschwätz.

Doch mit einem hatten sie Recht, irgendetwas stimmte mit diesem Garten ganz und gar nicht. Denn wann immer ich mit meinem Freund beriet, ob wir diese oder jene Pflanze aus dem Garten verbannen sollten, um Land für unser Gemüse zu gewinnen, begannen wir kurze Zeit nach der Arbeit, uns zu streiten. Sobald wir aber Schaufel und Hacke fallen ließen, verschwand der Zorn aus unseren Augen.

Zwei Mädchen stehen in einem Raum und erzählen sich etwas.

Ein Mädchen füttert das andere Mädchen mit einem Apfel.

Eines Mittags, als die Sonne am höchsten stand und ich allein im Garten war, machte ich ein Nickerchen auf dem alten Sessel im Haus. Die Fenster waren geöffnet und der warme Südwind ließ die Gardine auf und ab tanzen.

Ich träumte von dem alten Ehepaar und den beiden Schwestern. Ungewöhnlich war das nicht, denn immerhin hatten uns die Nachbarn beständig mit Geschichten über dieses Haus gefüttert. Doch in diesem Traum war alles dunkel. Die Farben waren von den Wänden gewichen und ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus.

Ein Mädchen sitzt und ein anderes steht draußen vor dem Fenster.

Jemand steht in der Ecke.

Ich fühlte mich beobachtet und starrte in die Ecken. Das einzige, was ich sah, waren die ausgehöhlten Körper von Insekten. Und doch, da war doch etwas. Ein leises Flüstern hinter mir. Ich schloss die Augen und da – plötzlich – eine kalte Hand auf meinem Arm. Sie schloss sich immer fester!

Ich erschrak aus meinem Traum. Mein Arm war kalt, doch keine Hand auf ihm.

Nun haben wir bereits Winter. Dem Garten haben wir seine Pflanzen gelassen. Nur die Bäume bekamen im Herbst einen neuen Schnitt. Wir haben uns arrangiert.

Im Frühling bauen wir Hochbeete für unser Gemüse, ansonsten bleibt alles so, wie es ist. Der Schnee hüllt das Haus nun in ein weißes Gewand und damit auch seine Geschichten. Es ist noch vieles vorgefallen nach meinem Traum, doch dies zu erzählen würde hier nun den Rahmen sprengen. Nur soviel: Die Schwestern lebten hier noch bis zu ihrem Tode, versteckt vor den Menschen und man sagt, sie wären nie gegangen.

Eine Frau kämmt der anderen Frau die Haare.

Der Kristall ist zerbrochen.

Ich hoffe, meine kleine Geschichte hat Euch gefallen. Danken möchte ich den vielen Geschichtenerzählern an unserem Gartenzaun, aber vor allem Gloria Endres de Oliveira und Julia Feige, die mich inspirierten, diese Geschichte zu erzählen.

22 Kommentare

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  1. Ganz relevant ist der jeweilige Gesichtsausdruck der Modelle – natürlich stilizistisch, aber nicht so lächerlich manieriert wie man das stets und ständig zu sehen bekommt. Auf diese Weise konzeptioniert entsteht überhaupt nicht der Eindruck, dass die Bilder versuchen würden, „echte“ Emotionen herbeizulügen – denn das tut eine Ikone auch nicht, es ist und bleibt eine Allegorie, für jeden ersichtlich, und das macht es dann wieder zu einem authentischen Werk.

    • Vielen Dank für deine Gedanken. So erinnert mich das Arbeiten mit Menschen auch eher an eine Theateraufführung in der jeder seine Rolle erhält und diese ausspielt. Allerdings finde ich den Gedanken, echte Emotionen vor der Kamera herbei zu führen ebenso spannend. Aber dafür bedarf es Mut auf beiden Seiten und die Lust sich hinzugeben und zu vertraue oder einfache ausgedrückt, die Kontrolle abzugeben.

      • Oh, ich würde gar nicht so weit gehen zu sagen, dass das hier „unechte“ Emotionen wären , denn soetwas gibt es schließlich nicht. Jedoch ist der Versuch, eine konkrete Emotion umzusetzen, sehr oft mit der Folge belastet, aus den eigenen archetypischen Vorstellungen heraus in den Kitsch abzudriften. Indem ich selbst von Ansatz oder Umsetzung im Unkonkreten verbleibe, komme ich gar nicht in die Verlegenheit, etwas Abgeschmacktes zu erzeugen – es generiert sich die aufrichtige, weil unkonkret erahnte Emotion wie von selbst im Betrachter, jedoch auf unausgetretenen Pfaden, worin vermutlich die Crux emotionalen Kunstinteresses liegt.

  2. ..ja – wunderschön, aber diese träumerische Weltflucht wundert mich immer wieder. In meiner Jugend (40 Jahre her) haben die Mädchen sich entweder gar nicht oder ganz anders inszeniert : Janis Joplin, Marsha Hunt, Rosa Luxemburg etc hießen die Vorbilder – also stachelig und nicht Dornröschen, Lolita oder „Barbie in Fairytopia“. Neuerdings weiß ich, dass das Phänomen „Eskapismus“ heißt und sicher sind davon auch Männer infiziert, wenn sie sich trotz fortgeschrittenen Alters z.B. in Wikinger- oder Mittelalterlagern zusammenhocken, mit muffigen Fellen und Waffen behängen und sich düstere Namen geben.
    Alles sehr seltsam.
    Ich will hier nicht die seelige Stimmung verderben, aber wundert ihr euch denn nicht auch ?

    Grüße
    Andreas

    • Hallo Andreas V.,

      du bringst mich gerade auf eine gute Idee. Was würden sich wohl Janis Joplin und Rosa Luxemburg in meinem Sommerhäuschen gegenseitig zu erzählen haben?

    • @ Andreas: Wenn sich niemand wundern sollte, dann liegt das wohl darin, dass die Stimmung des Bildes im Grunde nicht im Bild, sondern in deinem Kopf ist. Man könnte – um den Aspekt welchen du vielleicht siehst, mit einzubeziehen – beispielsweise behaupten, dass Alice im Wunderland ein Kinderbuch ist. Man könnte aber auch sagen, dass der Eskapismus, welcher zweifellos dazugehört, kein wirklicher Eskapismus ist, sondern lediglich ein abstrakter, eher gefühlter Symbolismus. Bei Lewis Carroll ist der biographische Bezug sehr deutlich, aber auch ohne diesen wäre offenkundig gewesen, welche Motive ein derartiges Werk berührt, umreißt, abschreitet. Selbst gesetzt den Fall, diese Bilder hier hätten wie in deinem Falle eine rein eskapistisch-selisch-verklärende Wirkung, so hat das für dich doch genau diese Fragen nach dem Warum aufgeworfen, und sie wären allein in dieser Hinsicht schon etwas wert gewesen, allein weil du den Kontrast als sehr stark empfindest.

    • für mich haben die bilder durchaus etwas düsteres an sich, wie auch das von dir erwähnte dornröschen selbst – grimms märchen sind schließlich alles, bloß nicht harmlos und unschuldig. ich würde die bilder auch keineswegs als “barbie in fairytopia” beschreiben, da sie doch eindeutig eine geheimnisvoll düstere komponente innehaben.
      nur weil die modelle mädchenhaft (gestylt) sind, bedeutet das nicht, dass es sich hier um einen inhaltsleeren, harmlosen und unstacheligen eskapismus handelt.

  3. Weil ja es ja immer heißt, ist alles Geschmacksache, muss ich für diese Serie (mit Texte) die Lanze brechen. Auch wenn mir solche melancholischen Serien häufig nicht zusagen, diese sind wirklich toll gemacht. richtig gut umgesetzt

  4. Ich finde die Fotos ausgesprochen stimmungsvoll. Eigentlich unnötig das extra zu erwähnen. Verflucht gut wie du das Licht eingesetzt hast. Wie hast du das gelernt?
    Sowohl Feige als auch de Oliveira sollten sich von dir inspirieren lassen und nicht umgekehrt.
    Als Fotograf kann ich auf die Location und die Models nur neidisch werden.

    • Gloria Endres de Oliveira und Julia Feige sind auf den Bildern zu sehen. Sie haben also sehr viel dazu beigetragen, dass diese Bilder so überhaupt entstanden. Den Rest hat das Licht, das Haus und ich gemacht. Gelernt habe ich das nur durch stetige Wiederholung. Danke für deine Worte.