Lost Place: Ein verlassenes Dorf
Auf der Karte ist es eingezeichnet, der Weg führt von der Hauptstraße weg auf die Nebenstraße einer Nebenstraße. Eine kilometerlange Sackgasse, die am Meer endet. Eine hauptsächlich von Ziegen genutzte Straße führt zu einem in ein winziges Tal gebettetes Dorf, das nur noch wenig Leben beherbergt. Umgeben von idyllischer Natur, Bergen und dem Blick auf das offene Meer in der Ferne strahlt es eine verstörende Ruhe aus.
Bereits von der Abzweigung der Hauptstraße aus ist es zu sehen, schon auf Entfernung wirkt es befremdlich. Fährt man die einzige befahrbare Straße entlang durch das Dorf, begegnet man noch etwas Leben in Form von ein, zwei geparkten Autos und einem noch bewohnten Haus, umgeben von Pflanzenkübeln.
Wir hatten davon gehört, dass es ein komplett verlassenes Dorf auf der anderen Seite dieser griechischen Insel geben soll. Der Mitarbeiter der Mietwagenfirma konnte uns vor der Abfahrt nichts darüber sagen, obwohl er aus der Gegend stammt, in der das Dorf liegt. Der Punkt auf der Karte deutet nicht auf eine verlassene Siedlung hin, es ist einfach ein Punkt wie alle anderen.
Aber gut, wir waren entschlossen, es selbst herauszufinden. Nach einigen Stunden Fahrt an malerischer Küste und gemütlichen kleinen Dörfern vorbei, einige Kilometer hinter der letzten größeren Stadt und nach einigen unbeabsichtigt gefahrenen Schleifen biegen wir an der richtigen Abzweigung ab und fahren einmal durch den kurzen Straßenabschnitt, der durch das Dorf führt. Begeisterung macht sich breit.
Am Ortsausgang führt ein Weg ins eigentliche Dorf hinein, dort lassen wir unser Auto nach wenigen Metern stehen. Die Wege im Dorf sind nicht für Fahrzeuge gemacht. Das erste Haus ist verschlossen, eine rostige Treppe führt hoch aufs Dach, so wie bei vielen anderen Häusern im Dorf. Wir gehen hinauf. Vom Dach aus bietet sich uns ein großartiger Blick über das ganze Dorf und das kleine Tal, in dem wir uns befinden.
Es müssen um die 150 Häuser sein, die teilweise offen stehen, teils fest verschlossen sind. Manche sind eingestürzt, andere gut erhalten. Die Kirche im Dorf ist seltsamerweise frisch renoviert, glänzt mit neuen Fenstern und macht einen gepflegten Eindruck.
Auf dem weiteren Weg ins Dorf stoßen wir schnell an eine Absperrung, hinter der sich ein Bewässerungssystem von Gartenschläuchen ausbreitet, das eine Vielzahl an Pflanzen, Blumen und kleinen Beeten versorgt. Die wenigen Menschen, die hier noch leben, haben sich inmitten der Ruinen kleine Oasen einrichtet. Dieses erste bewohnte Haus ist recht weit oben, mit Zugang zur Straße. Ein weiteres bewohntes Haus entdecken wir mitten im Kern des Dorfes, nachdem wir an vielen verlassenen Häusern und Ruinen vorbei gegangen sind.
Die Bewohner sehen wir nicht, wir hören sie nur ab und zu, zwischen Ziegen und Hundegebell. Unweigerlich fragen wir uns, wer hier noch lebt und warum. Weshalb lebt man in einem großen, nahezu menschenleeren Dorf, das zum Großteil der Verwitterung preisgegeben ist? Teilweise geht die Fantasie mit uns durch, als wären wir Jugendliche in einem Abenteuer-Roman.
Wurden die Häuser vielleicht überhaupt nicht verlassen, sondern ihre Bewohner verstarben nach und nach? Auf der Insel gibt es sicher Schwierigkeiten damit, den Nachwuchs zu halten. Vermutlich zieht es die Jugend in die wenigen Städte oder aufs Festland. Es ist nachvollziehbar, dass dieses kleine Dorf zwar dank malerischer Umgebung in völliger Ruhe liegt, aber als dauerhafter Wohnort wenig attraktiv ist und kaum Chancen bietet, mit seinem Leben etwas anzufangen.
Wir finden einige Dokumente, Briefe und Zeitungen, die auf 1995 datiert sind und schließen daraus, dass das Dorf bis dahin bewohnt war. Das wiederum spricht eher dafür, dass es doch einen Zeitpunkt gab, an dem die verbliebenen Dorfbewohner sich entschlossen haben, wegzuziehen. Sind die wenigen Menschen, die heute hier leben, übrig geblieben oder haben sie sich später in dem verlassenen Dorf nieder gelassen? Wir möchten als Besucher nicht stören und machen daher einen Bogen um die Grünanlagen der Leute. Es wird recht früh dunkel, daher entschließen wir uns dazu, die Nacht im Dorf zu verbringen.
Es gibt einfach viel zu viel zu entdecken, als dass wir nach wenigen Stunden schon wieder fahren könnten. Wir wandern also durch das Dorf, untersuchen Häuser nach offenen Türen und Fenstern. Leider sind die offenen Häuser nicht in einem Zustand, der es erlauben würde, darin ein Lager aufzuschlagen. Da das Tal aber völlig windstill ist, gehen wir zurück auf das Dach des ersten Hauses und stellen unser Zelt auf. Die Dämmerung macht das Dorf nicht unbedingt freundlicher.
Die Geräusche der Ziegen, Katzen, Hunde und der Menschen lassen sich nicht genau zuordnen, wir sitzen also auf dem Dach und haben ein mulmiges Gefühl im Bauch. Der Entdeckergeist und das rationale Denken ergeben sich schließlich der Paranoia, spätestens als irgendein lautes Geräusch durch das Tal schallt, zu dem jeder von uns dreien eine andere Assoziation hat.
Wir entscheiden uns dennoch für einen Nachtspaziergang durch das Dorf. Das Licht der wenigen Laternen ist ausreichend und wir wollen uns die Kirche gern näher anschauen. Der einzige Weg zur Kirche führt an einem der noch bewohnten Häuser vorbei, aus dem Stimmen und klapperndes Geschirr zu hören sind. Ein Mann füttert die Katzen. Auf dem Rückweg machen wir dennoch einen Bogen um das Haus und klettern über eine Ruine. Die Paranoia gewinnt.
Den entspannten Abend auf dem Häuserdach hätte nur ein Lagerfeuer noch aufwerten können. Wir sind versorgt mit lokalen Früchten und blicken in die Ferne, wo im Dunkeln der Übergang von Meer zu Horizont verschwimmt. Unsere Stimmung wird getragen von der Bewunderung für die Schönheit dieses Ortes und zugleich der Verwunderung über die Paradoxien, die sich uns nicht erschließen.
Am nächsten Morgen weicht die Paranoia der warmen Morgensonne. Das zuvor an der Straße geparkte Auto steht mit laufendem Motor neben unserem Mietwagen. Von unserem Dach aus beobachten wir und fragen uns, was vor sich geht. Haben wir jemanden mit unserer Anwesenheit verärgert? Ein Mädchen steigt mit ihrem rosa Rucksack aus dem Wagen, läuft vor zur Straße und steigt in den Schulbus ein, der sie die Hügel hinauf mitnimmt.
Wir spazieren erneut durch das Dorf, dieses Mal im Hellen. Über Dächer, Balkone und durch offene Fenster kletternd finden wir in vielen Häusern Spuren der Menschen, die sie einst bewohnten. Fotos, Briefe, Tagebücher und persönliche Gegenstände, teilweise vollständig eingerichtete Zimmer mit Schränken samt kompletter Garderobe. Warum wurden so viele persönliche Gegenstände zurückgelassen? Wer würde sein Haus verlassen, aber Tagebücher und Hochzeitsfotos nicht mitnehmen?
Auf einem Balkon weiter oben steht ein Mann und raucht eine morgendlich Zigarette. Wir grüßen und spazieren weiter. Ein weißer Bus fährt durch das Dorf, den wir später einige Kilometer weiter wiedertreffen. Zwischen zwei halb eingestürzten Gebäuden pflücken wir einige reife Granatäpfel vom Baum und essen sie in der warmen Sonne auf „unserem“ Dach. Dann verabschieden wir uns von diesem seltsamen Ort, unsere offenen Fragen nehmen wir mit.
Der Besitzer des weißen Busses ist Obsthändler im nächsten Dorf. Er hat uns auf dem Dach zelten sehen, sagt er lachend. Über die Geschichte des Dorfes kann er uns auch nicht viel sagen, was zum Teil auch der Sprachbarriere geschuldet ist. Die Menschen sind einfach irgendwann gegangen, sagt er. Er lässt uns von dem köstlichen, lokalen Honig probieren, wir kaufen Obst und Gemüse und machen uns wieder auf den Weg.