Der Gesang des Lebens
Vor einigen Jahren gab es eine einzelne Begebenheit, die mich meine persönliche Philosophie der Fotografie noch einmal überdenken ließ. Ich war in Athen und machte gerade Fotos in einer Gegend mit Antiquitäten-Läden unterhalb der Akropolis.
Als ich müde wurde, wurde mir klar, dass ein Buch der Ideale Begleiter wäre, während ich meinen Kaffee genießen würde. Aus haufenweise alten Büchern suchte ich eines des griechischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Odysseas Elytis aus, einfach weil mich die Inschrift auf dem Titel ansprach.
Völlig zufällig schlug ich das Buch auf irgendeiner Seite auf und las dort ein Zitat, das dazu führte, dass ich die Art und Weise, wie ich die Fotografie sah, änderte. Und das Zitat lautete folgendermaßen:
… mit Leim-Zweigen mag man Vögel fangen, aber man kann niemals ihren Gesang einfangen. Dafür braucht man eine andere Art von Zweig …
Es ist dieser „Gesang“, den ich mit meinen Fotos einfangen möchte. Auf der Straße – und das ist der Bereich, auf den ich mich beziehe – interagieren die Menschen immer noch mit der Umgebung, obwohl sie innerhalb ihrer Individualität gefangen sind. So kreieren sie unwissentlich Kompositionen, die sie dem Fotografen präsentieren, dem Jäger der Zeit, des Lichts, der Formen oder Linien.
Linien und Formen erscheinen und verschwinden augenblicklich; sie verändern sich von einer Minute zur anderen und ich arbeite innerhalb dieser Unbeständigkeit und den Wirren, isoliere verschiedene Facetten der Realität durch meine Linse. Ich tue nichts anderes, als den Moment zu suchen, in dem Erzählung überflüssig wird, mit einem Anblick, der ein neues Universum erschafft, in dem alles offensichtlich ist und doch etwas versteckt wird, nicht aber durch Symbole, sondern durch Hinweise.
Ich mache Fotos, um meine eigene Welt zu erschaffen, die sich vom realen Leben absetzt, aber Elemente der Realität benutzt. Das hilft mir dabei, Dinge anzusprechen, die in meinem Inneren verstreut sind – wie diese Rätsel, die es immer in den Heften mit den Kreuzworträtseln gab, bei dem ein Bild entstand, indem man die Punkte in der nummerierten Reihenfolge miteinander verband.
Alle meine Bilder haben, meiner Meinung nach, den gleichen Schwierigkeitsgrad, aber ich würde gern eines herausgreifen und Euch die Geschichte dahinter erzählen: Vor ein paar Jahren habe ich mich auf den Weg zu einem traditionellen Fest gemacht, das hoch in den Bergen stattfindet – eine zweistündige Fahrt über eine steile, schmutzige Straße von meinem Heimatort entfernt.
Ich brach mit der Intention dorthin auf, in den drei Tagen, die das Fest dauern würde, massenweise Bilder zu machen. Als ich dort ankam, öffnete ich die Tür meines Wagens, sah das Bild, das sich in diesem Moment vor meinen Augen bildete, machte ein Foto davon und fühlte eine solche Erfüllung, dass ich realisierte, dass es keinen Grund gab, dort noch weitere Bilder zu machen – also schloss ich die Tür wieder und fuhr mit einem einzigen Bild zurück.
Um zu fotografieren, reise ich nicht; ich mache tagsüber Fotos in der kleinen Stadt, in der ich lebe und am Ende des Tages eine Auswahl davon. Ich lasse meine Bilder nicht „reifen“, denn was für mich wirklich wichtig ist, ist die Erregung über ein gutes Foto.
Dieser Artikel wurde von Aileen Wessely für Euch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.