Vom Aufwühlen der eigenen Seele
Anfang des Jahres habe ich, naiverweise, ein 365-Tage-Projekt begonnen. Naiv, weil es den Vorsatz beinhaltet, kein Foto zu verwenden, das mir nichts bedeutet. Eine Freundin sagte, sie sei gespannt darauf, mich in diesem Jahr in guten und schlechten Zeiten zu sehen. Ein Kommentar, dessen Wahrheitsgehalt sich mir erst einige Wochen später offenbarte.
Mir war lange nicht klar, wo ich mit meiner Fotografie hin will. Auch jetzt blicke ich noch eher durch dichten Nebel, als dass ich ein klares Ziel vor Augen hätte. Aber wie es mit Nebeln so ist, entdecke ich bei jedem Schritt, jedem Bild ein neues Stückchen Weg. Ich gehe tatsächlich durch Höhen und Tiefen, durchlaufe Foto für Foto einen inneren Prozess, bei dem Versuch, Gefühle, Gedanken und Worte in Bilder zu verwandeln.
Ich war nie jemand, der gewissenhaft Tagebuch führt. Auch jetzt sind die Bilder des Projekts nicht dokumentarisch und schildern meinen Alltag. Aber sie spiegeln doch wider, wie ich mich und andere, die Welt um mich herum, sehe und fühle. Mit jedem Bild kehre ich ein wenig mein Innerstes nach außen. Wühle meine Seele auf, ordne Dinge neu und schließe Dinge ab.
Dieser Prozess hat mich gewissermaßen überrascht, mir gezeigt, wie eng mein kreatives Schaffen mit mir als Person verbunden ist. Es fließt aus mir heraus, hilft mir, für Verborgenes einen Ausdruck zu finden. Daraus entstehen viele, aber nicht ausschließlich, Selbstportraits. Für viele Ideen, die ich umsetzen möchte, halte ich mich selbst als Motiv für ungeeignet, um die Aussage zu transportieren. Also suche ich mir Menschen, die sich vor meine Kamera stellen möchten.
Hauptberuflich studiere ich Soziale Arbeit und arbeite in einer Wohngruppe für Kinder. Bei der Arbeit haben oft Symbole eine große Bedeutung. Manchmal hilft es Kindern, die Angst haben, ihre Ängste aufzuschreiben und den Zettel fest in einer Kiste zu verschließen, um anschließend ruhig schlafen zu können. Oder sie malen in ein Album, um Gefühle auszudrücken, die schwer in Worte zu fassen sind. – Ich fotografiere.
Diesen sehr persönlichen Aspekt der Fotografie, zusammen mit dem Druck, jeden Tag ein Foto zu präsentieren, hatte ich anfangs unterschätzt. Es kostet Überwindung, die Tiefen öffentlich zu machen. Fotos zu zeigen, mit denen ich nicht zufrieden bin. Um einen Rahmen zu finden, in dem ich Persönliches ausdrücken kann, ohne mich öffentlich zu durchleuchten, habe ich einen neuen Ansatz für mich entdeckt: Geschichten erzählen.
Hinter vielen meiner Bilder steckt eine persönliche Geschichte, eine tiefe Emotion. Manches Mal zu persönlich, als dass ich sie preisgeben möchte. Also suche ich Worte, Texte oder Zitate, die umschreiben, was ich meine und den Betrachter selbst seine Geschichte dazu erzählen lassen. Vielleicht können meine Bilder so anderen beim Aufwühlen und Neuordnen, beim Erzählen ihrer Geschichte hilfreich sein.
Da stehe ich also, im Nebel, und schaue, wohin mich das alles führt. Das ist keineswegs schlecht. Ich habe einen Hang zu Geheimnisvollem. Dinge, die mich staunend, wundernd oder verstört lassen und mir Raum geben, weiter zu denken, zu fragen und zu zweifeln. Ich hätte beim Kauf meiner ersten Kamera nicht erwartet, wie sehr diese Entscheidung mein Leben verändern würde.
Aber so ist das mit Geschichten, oft entstehen sie erst während des Erzählens. Ich stehe morgens auf, nehme meinen Hund an die Leine, hänge die Kamera um und verlasse das Haus. Fahre ein Stück raus aus der Stadt, lasse den Hund von der Leine und gehe spazieren. Ich sehe Landschaften, Menschen, Orte, halte sie in einem Bild fest.
Ich erinnere mich an Begebenheiten, lächle, werde nachdenklich, drücke auf den Auslöser, halte den Ort fest, der die Erinnerung wach rief. Irgendwann später werde ich wieder dorthin gehen, allein oder mit anderen, um unter verwirrten Blicken von Spaziergängern seltsam anmutende Dinge vor meiner Kamera zu tun. Und warum das alles?
Schwer zu sagen. Es lichtet den Nebel. Mit jedem fertigen Bild habe ich einen Gedanken sortiert, etwas ausprobiert und abgehakt oder Klarheit über einen Gemütszustand gewonnen, der vorher schwer zu fassen war. Ich bin gespannt, wo ich am Ende dieser 365 Tage stehe. Ich würde ja vermuten, dass ich dann auf ein ordentlich sortiertes Regal schauen kann, gefüllt mit allem, was in mir so vorgeht.
Aber nein, dazu kenne ich mich so gut. Zumindest hoffe ich auf eine neue Perspektive, ein wenig Sinn und vielleicht Umrisse eines Ziels am Horizont. Ich scheue mich allerdings auch nicht vor Utopien, sonst würde mein Leben gravierend anders ausehen.
Zum Schluss noch eine Textzeile für alle, die, wie ich, mit Fotografie auf der Suche sind: „What is life without a purpose? What is purpose without love?“ – La Dispute