Wieso Zoom? Ich kann doch laufen.
Die Straße ist das mobilste Bühnenbild der Welt. Ein paar Schritte vorwärts und im Sucher der Kamera verschieben sich der Hintergrund und das komplette Mobiliar der Szene gegeneinander – die Laterne, die eben noch das Bild am Rand begrenzte, zerschneidet plötzlich die Szenerie in zwei Hälften. Lässt sich das für die Dramaturgie nicht nutzen oder ist sogar kontraproduktiv? Dann lauf weiter.
Straßenfotografie kann das antizipierende Flanieren eines Henri Cartier-Bresson, Brassaï, Alfred Eisenstaedt oder Robert Doisneau sein, die ihre bildnerischen Zufälle nicht bloß fanden, sondern sie sogar provozierten: Indem sie warteten, bis die Situation, deren Geschehen sie nur vermuteten, sich tatsächlich in dem Bildausschnitt ereignete, den sie als Bühne für ideal hielten.
Oder extremer noch – wie Lee Friedlander – der Schicht um Schicht überlagerte: Spiegelungen von Glas, Himmel und Chrom oder gestaffelte urbane Landschaften, die durch die Personen, die ins Bild traten, zur Erzählung wurden. Kontaktabzüge von Cartier-Bresson belegen, dass vor dem auf den Punkt genauen „decisive moment“, für den er bekannt wurde, auch etliche weniger entscheidende Augenblicke lagen.
Mit dem Erscheinen von Robert Franks Bildband „The Americans“ in 1958 änderte sich der Fokus der Straßenfotografie erstmals – vom genialen Einzelbild zum Denken in filmischen Serien, die sich von der Totalen in die Halbnahe bewegen und auch mit unterstützenden Bildern und Bildpaaren arbeiteten.
Einer der konzeptionellsten Straßenfotografen der Fotografiegeschichte ist lediglich eine literarische Figur: Der von Paul Auster erdachte Auggie Wren ist der Besitzer eines Tabakladens in Brooklyn. Im von Paul Auster und Wayne Wang inszenierten Film „Smoke“ spielt Harvey Keitel jenen Auggie, der jeden Morgen die gleiche Kreuzung vor seinem Geschäft dokumentiert.
Ohne Rücksicht auf Komposition und Licht lässt er seine Fotografien der Kreuzung Atlantic Avenue und Clinton Street einfach „passieren“ und baut aus der schieren Monumentalität von 4000 Fotografien ein Zeitdokument, in dem Menschen sich auf dem Weg zur Arbeit begegnen, laufen, stolpern und zwangsläufig auch altern.
Was einen Straßenfotografen auszeichnet, ist seine eigene Unsichtbarkeit. In dieser Disziplin ohne Regieanweisungen ist es kein Nachteil, eine unscheinbare Erscheinung zu sein. Auffällig lange Teleobjektive verbieten sich ohnehin von selbst: Ein Straßenfotograf ist weder ein Sniper, noch ein Paparazzo, sondern lediglich ein Passant, der seine Augen durch eine Kamera ersetzt.
Es ist kein Zufall, dass die ideale Brennweite für viele Straßenfotografen zwischen 28 und 50 Millimetern liegt und nicht nur dem Vergrößerungsfaktor des menschlichen Auges, sondern auch dessen Fähigkeit zur Tiefenschärfe ähnelt. Mal ganz abgesehen von den Vorteilen verwacklungsfreier Aufnahme durch kürzere Objektivbauweise und höhere Lichtstärke.
Die gezeigten Fotografien entstanden 1987 mit einer zweiäugigen Rolleiflex auf Tri-X 400 Film von Kodak. Der Vorteil der zweiäugigen Kamera liegt in der Konzentration auf das leuchtende Bild der Fresnel-Mattscheibe, die man vor seinem Oberkörper trägt – die seitenverkehrte Abbildung entkoppelt dieses Bild noch weiter vom Augenblick und lenkt den Blick nur noch auf die Komposition.
Mit dieser Kamera ist es leicht, unsichtbar zu bleiben, ohne zum Voyeur zu werden. Für mich selbst habe ich einen ähnlich diskreten Charme von Technik erst viele Jahre später wieder mit einer Sony RX100 erlebt, die ich als stabiles, sucherloses Teil schätze, das in jede Hosentasche passt. Mit einer Chipgröße, die auch höhere ASA-Zahlen erlaubt.
Dass Bilder nicht nur nicht „gestohlen“ werden, sondern den Abgebildeten auch gezeigt werden können, ist natürlich im Digitalzeitalter ein Vorteil. Kein Fehler, wenn man zwar bei der Aufnahme unsichtbar war, während des Fragens aber so charmant wie möglich ist.