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11. Oktober 2013 Lesezeit: ~3 Minuten

Der Fremde in mir

Jeden Tag irre ich durch die Straßen meiner Stadt auf der Suche nach wundervollen Charakteren und einzigartigen Momenten. Man mag es Straßenfotografie nennen. Für mich fühlt es sich seit einiger Zeit wie ein Goldrausch nach seltenen Millisekunden an. Doch wenn ich ganz ehrlich bin, suche ich nach etwas ganz anderem: Mir selbst.

Ich habe mich lange Zeit unsicher gefühlt, weil ich in der Fotografie zwar eine Heimat gefunden habe, aber kein echtes Zuhause. Portraitfotografie war für mich die wünschenswerte Vorstadtvilla mit Garten, Landschaftsfotografie das rustikale Fachwerkhaus zwischen Wald und Wiese, Architekturfotografie der bewundernswerte Wolkenkratzer und Tierfotografie der idyllische Bauernhof.

All das müsste sich doch so unglaublich richtig anfühlen – aber leider nicht für mich. Ich gehöre auf die Straße, so beunruhigend diese Einsicht auch erst war.

© Marius Vieth

Ich nahm all meinen Mut zusammen und begann Anfang des Jahres einfach, Menschen auf der Straße zu fotografieren. Meine anfänglichen Ängste sorgten dafür, dass ich mich der Thematik ganz sanft näherte. Mit dem klassischen „35mm schwarzweiß mittendrauf“ hatte das nicht im Ansatz zu tun.

Auch, wenn es mich am Anfang verunsicherte, beschloss ich nach kurzer Zeit, einfach so zu shooten, wie ich das Genre interpretiere. Ich probiere alle möglichen Facetten und Strömungen der Straßenfotografie aus. Dabei ist jeder Tag ein weiteres Puzzlestück auf dem Weg zu meiner ganz eigenen Vorstellung von Straßenfotografie.

© Marius Vieth

Manche passen, manche weniger. Wenn ich meinen Stil beschreiben müsste, würde ich ihn als farbenfroh, aufgeräumt und sanft beschreiben. Ich spüre, dass ich meiner Idee von Straßenfotografie täglich näher komme, allerdings noch längst nicht da bin.

Straßenfotografie polarisiert. Für die einen ist es eine einzigartige, gar magische Dokumentation zeitgenössischen Seins, für die anderen Rumgeknipse aus Hipsterhausen. Was auch immer man in ihr sieht, ich sehe in ihr eine der größten Lehrstunden meines Lebens.

© Marius Vieth

Selten habe ich mich persönlich so sehr mit dem Leben und Sein anderer Menschen auseinandergesetzt. All diese unterschiedlichen Charaktere, Lebensweisen und Sinngebungen halfen mir nicht nur, zu verstehen, wer ich überhaupt bin, sondern wie essentiell es ist, leben zu lassen.

Ich möchte ganz ehrlich sein: Wie ich am Ende des Tages zu 100 Mal X in Lightroom oder einer goldenen Millisekunde komme, unterscheidet sich nicht groß von anderen Straßenfotografen. Das hat Martin in diesem Magazin bereits in wundervoller Weise erläutert.

Auch, wenn mich diese riesige Flut von unglaublich talentierten Fotografen auf der ganzen Welt noch immer sehr einschüchtert, ist mir eines mittlerweile bewusst geworden: Mein Herz, meine Gefühle und meine Gedanken gibt es wirklich nur einmal.

© Marius Vieth

Jeder dieser Menschen wird durch meine Fotografie ein Teil von mir, der mich mein Leben begleiten wird. Am liebsten würde ich ihnen sagen, wie viel sie mir bedeuten und warum sich mein Herz an diesem Tag für sie entschieden hat. Warum eigentlich nicht?

28 Kommentare

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  1. Sehr schöne Bilder.

    Ich würde ebenfalls gerne Personen fotografieren und kenne auch (zumindest theoretisch) die rechtliche Seite dieser Geschichte. Wie aber sieht die Praxis aus? Läuft man da wirklich mit einem Stapel Model-Release-Verträgen in der Tasche durch die Stadt oder wie läuft das in der Realität?

    • Hey Reinhard,

      ich persönlich kenne die etwas schwierige Rechtslage in Deutschland, allerdings könnte man mit ihr nie authentische Street Photography machen. Ich möchte Menschen in echten Momenten verewigen, und das geht nur mal nur ohne vorher zu fragen. Wenn ich mich mit jeder Person danach vertraglich auseinandersetzen müsste, kannste gleich einpacken. Meine Fotos zeigen Menschen auf respektvolle Art und Weise und oftmals erkennt man sie nicht mal. Wenn jemand ein Problem damit hat, nehme ich sein Foto raus. Aber diese Rechtslage in Deutschland wird mich nicht davon abhalten, meiner größten Leidenschaft nachzugehen :) Aber das muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Wünsche dir einen tollen Tag!

  2. Na, also wer solche Bilder zeigt, der braucht sich überhaupt nicht von der „Flut“ talentierter Photographen auf der Welt einschüchtern lassen – der gehört ja selber dazu. Ganz großartige, stille Strassenphotographie! Danke.

    Servus,
    Markus

  3. Auch von mir großes Lob: Die meiste Straßenfotografie langweilt mich (mittlerweile) zu Tode. Total flaches oder total hartes Licht, so viel schärfe wie möglich und hoffen, dass noch irgendwie ne geometrische Form mit drin is, ob die jetzt zum Bildinhalt passt ist erstmal egal. So fühlt es sich für mich zumindest oft an.
    Hier sehe ich Witz, interessante Lichtgestaltung, geometrische Komposition, die zum Bild passt (im letzten Bild zum Beispiel sehr deutlich). Das sind Street-Bilder die ich mir gerne anschaue!

  4. Sehr interessanter Artikel. Mir gefällt an den Bildern vor allem die Abwechslung. Nicht alles Schwarz-Weiß, nicht alles Farbe. Dazu immer wieder tolle Momente und tolle Blickwinkel. Man kann an vielen Bildern auf Flickr wirklich länger verweilen.

  5. Also Marius, dass Du ein einzigartig guter Fotograf bist weiß ich ja schon seit längerem, aber dass du das auch alles noch so toll in Worte fassen kannst; ich bin beeindruckt.

    Einen schönen und sehr persönlichen Artikel hast du hier verfasst, er ist sogar noch viel besser geworden als ich es erwartet hatte. Aber eine Sache hätte ich Dir nicht abnehmen wollen: Das auswählen der Fotos für den Artikel, das ist nämlich eine sehr sehr schwere Aufgabe bei deinen Werken!

  6. Ich fotografiere seit vielen Jahren erfolgreich ohne Flickr-Account. Seit gerade eben habe ich jetzt auch einen Flickr-Zugang…-wegen Dir..! Das sind seit langer Zeit die wirklich besten StreetShots die ich gesehen habe. Etwas mehr Selbstvertrauen und dann kann da – mit ein bisschen Glück – was GROSSES draus werden…

    Ich behalte dich im Auge…-hab ja jetzt Flickr… ;-))

  7. Spannende Auseinandersetzung mit dem Thema Streetfotografie. Tatsächlich setzt man sich oft nicht nur mit dem Foto, sondern auch der Person auseinander und reflektiert dann mit sich selbst. Wobei ich bei den Bildern auch noch viel grafische Elemente im Vordergrund sehe, gar nicht so die Person.

    (btw: Ich finde, dass das Thema „Persönlichkeitsrecht“ manchmal für die Streetfotografie hemmt. Es sei denn, man pfeifft drauf. Das geht so lange gut, wo die Bilder nur digital ohne Rechteübergabe an Dritte veröffentlicht werden und man sie jederzeit rausnehmen kann. Sonst ist der ewige Filter, nur von hinten, nur bis zum Hals oder Silouetten fotografieren zu dürfen, sehr einschränkend und ermüdend. Man kann den Leuten aber nicht immer hinterherlaufen, wenn sie gerade auf der anderen Rolltreppe sind oder in den Bus einsteigen)

  8. street photography at its best… sehr schön geschriebener Bericht und einfach super Fotos! In Deinem Flickr-Stream kann man die Zeit „vergessen“ :) und ermutigt mich mehr mit Straßenfotografie zu beschäftigen, wobei die Ausbeute im urbanen Umfeld höher als im ländlichen Raum bei mir sein dürfte… bleibt mir ja noch die „Landschaftsfotografie das rustikale Fachwerkhaus zwischen Wald und Wiese“ :)

  9. erst jetzt Deinen Artikel entdeckt, obwohl ich Dir ja schon einige Zeit folge :) So schön in Worte gefasst – mit so viel Herz!! Wie toll ich Deine Fotos finde habe ich Dir bereits x-Mal geschrieben … :)