Nirgendwo
Leon Kirchlechner hat sich auf die Suche nach dem Nirgendwo gemacht. Nirgendwo, das ist die Abwesenheit eines Ortes, zumindest in dem Sinne, dass er als solcher nicht erkennbar, vielleicht wiedererkennbar ist. Als Betrachter gegenständlicher Fotografie erwarte ich, Motive oder Szenen im Rahmen eines Ortes präsentiert zu bekommen und genau das wird mir verweigert.
Doch was passiert, wenn nicht nur Motive und Szenen ausbleiben, sondern auch der Rahmen dafür, der wenigstens erwartete Ort, den es sich abzubilden lohnen könnte? Beim Wort „Ort“ denke ich an Straßen, Häuser, Architektur. Oder Natur, üppiges Grün, Vegetation, vielleicht interessante Fels- oder Wasserlandschaften. Was bleibt noch übrig, wenn man all seine Erwartungen an Orte abzieht?
Der Rest ist die Welt in Form feinen Pulvers, aufgelöst in ihre kleinsten Bestandteile, zerbröselt, einfach hingeworfen. In dieser Einöde sucht mein Betrachterblick immer noch voller Erwartungen nach den gewöhnlichen Eigenschaften eines Motivs: Linien, klare Farben. Begrenzungen, Muster, Regelmäßigkeiten. Größen- und Formunterschiede, die dem Ganzen Struktur geben und dem Auge Anhaltspunkte zum Erkennen und Verordnen.
Erst nach und nach lässt sich dieser suchende Blick auf die veränderten Gegebenheiten ein. So wird die Aufmerksamkeit auf natürliche, zufällige Farben und ihre Abstufungen gelenkt, auf feine Muster oder auch wieder die Abwesenheit jeglicher Regelmäßigkeit. Langsam gewöhne ich mich beim Betrachten an die Abwesenheit von Personen und Gegenständen, die vorhandene Räume füllen oder in ihnen Positionen einnehmen und so Spannung durch Abstände oder Verhältnisse erzeugen.
Immer noch suchend wandert das Auge über Details: Stöckchen, Steine, Bereiche des Bodens mit von der Umgebung abweichender Farbe. Welche Schlüsse lassen diese abgebildeten Spuren von einmal Passiertem zu? Was ist an diesen Orten, die sich bisher als Nicht-Orte präsentiert haben, geschehen? Werden sie zu Orten, in dem Moment, in dem Spuren auf ihre Vergangenheit schließen lassen?
Und: Was hat den Fotografen Leon Kirchlechner bewogen, gerade diesen Nicht-Ort auszuwählen und zum Motiv zu machen? Denn mir scheint, auch am anderen Ende der Skala, auch mit dem Vorsatz, ein Nirgendwo zu zeigen, braucht es Auswahlkriterien. Oft finden sich zentrierte Kompositionen, ich vermute einen Anhaltspunkt, doch was genau ist zentriert, auf was soll meine Aufmerksamkeit gelenkt werden? Löcher, Durchgänge, gähnendes Nichts.
Auf den ersten Seiten mischen sich verschiedene Sandfarben, es liegen ein paar Steine herum. Einmal: Ein Stein in der Mitte, ringsherum schwarze Erde. Überreste eines Brandes? Die Frage bleibt im weiten Raum hängen, es fehlen genauere Indizien. Hier und da Spuren von Zivilisation, doch eine universelle Abwesenheit von fast allem füllt den reichlich vorhandenen Raum aus.
Von Menschen gestaltete und geformte Strukturen aus Beton kämpfen mit ebenso Flächen füllendem Zufall, erzeugt von ewigen Naturgewalten, überwältigt von Wind und Wasser, um die Vorherrschaft im Bild. Sind es Überreste, nun sinnentleerte Teile eines ehemals Ganzen oder handelt es sich um den nie vollendeten Anfang von etwas, das überhaupt nie zu einem Ganzen wurde?
Unterschiedliche Grade der Verschmelzung von natürlichem und von Menschen geformtem Material präsentieren sich, halten sich gegenseitig im Zaum. Bei genauem Hinsehen wird klar, dass sich auch in jene geradlinigen, glatten Betonwände Muster des Verfalls und des Zufalls gemischt haben. Das Material lässt sich nicht vollständig beherrschen, strebt gegen menschliches Einwirken zurück in seinen Ursprungszustand.
Gleichmäßig verteilt oder zu Gruppen zusammengedräng,t finden sich Ansammlungen von Kleinstteilen inzwischen undefinierbaren Ursprungs und unbekannten Zwecks. Stofffetzen, Beton und Stein tragen die Narben der Verwitterung, Abtragung – der Vergänglichkeit.
Irgendwann vermengt sich alles, was wir den naturgegebenen Ressourcen abgerungen und umgeformt haben, wieder miteinander. Es ist ein unaufhaltsamer Kreislauf, der immer wieder an seinen unförmigen, ungestalteten, unstrukturierten Ursprung zurückführt – wie massiv die Betonwände auch sein möge, die wir zwischenzeitlich errichten.
Ganze Räume aus Beton werden präsentiert, die zwar martialisch wirken, deren Zweck aber nicht ersichtlich ist. Auch sie sind verschlissen, doch von welchen Kräften? Es ist keine Einfallsrichtung für äußere Einwirkung erkennbar.
Die Serie steigert sich bis hin zu Bildern, auf denen tatsächlich fast nichts mehr zu sehen ist: Sie sind gänzlich abstrakt oder fast komplett schwarz. Man muss die Augen zusammenkneifen, um noch etwas zu erkennen.
Und dazwischen, hier und da: Eine Wolke, die unwirklich mitten im Bild, im abgeschlossenen Raum schwebt, fast durchsichtig, dennoch eindeutig da, anwesend, Raum beanspruchend. Zwischen all dem Zufall und Beton hat sie ein überraschend und verwirrend wesenhaftes Auftreten. Ein Stellvertreter für das abwesende Leben.
In all die ruhige Abwesenheit jeglichen Motivs bricht der Lärm und die Aggressivität eines zerrissenen Vorblattes: Der Riss ist beim Ansehen nahezu hörbar, ebenso wie die Bilder ist er Überrest und Spur von etwas, was vorher dort passiert ist. Aus Nirgendwo wird „jetzt hier“. Nowhere – now here.
Nowhere
Leon Kirchlechner
Hardcover, Leineneinband
Offset-Druck, Fadenheftung
30 x 22 cm, 64 Seiten
Auflage: 800, nummeriert
ISBN 978-3-00-041744-3
29,80 €
Erschienen bei und vertrieben durch dienacht Publishing und Der Greif.