Ich habe mal gelesen, dass wir Menschen eigentlich das langsamste Lebewesen auf der Erde sind. Damit ist nicht unsere Gehgeschwindigkeit gemeint, sondern unsere Entwicklungsfähigkeit. Es gibt kaum ein Lebewesen, das so lange braucht, um mehr oder weniger selbstständig zu funktionieren (eigentlich ist dies nie der Fall, da wir ja von unserem sozialen und gesellschaftlichen Leben abhängig sind).
Diese Tatsache ist irgendwie ein Widerspruch zu unserem gesellschaftlichen Funktionieren. Wir haben uns als Gesellschaft kulturell so entwickelt, dass wir sehr schnell unterwegs sind. Unsere Entwicklung, der sogenannte Fortschritt, ist in einem rasanten Tempo unterwegs. So schnell, dass wir kaum mithalten können und die Entwicklung, die wir wahrnehmen, ist nur ein Fragment des Gesamten.
Diese Fragmente betrachten wir als unsere Realität. Vergessen dabei aber oft, dass wir eigentlich unser kleines, eingeengtes Dasein leben. Das klingt jetzt irgendwie etwas deprimierend, oder? Ich finde nicht. Es kann auch ein sehr befreiender Gedanke sein.
Er kann uns befähigen, unsere Realität zu gestalten – nicht wir werden von der Realität gestaltet. Zum Beispiel, wie wir unsere Zeit verbringen und was wir uns in dieser Zeit erlauben, wahrzunehmen.
Eine Definition von Geschwindigkeit ist:
Verhältnis von zurückgelegtem Weg zu aufgewendeter Zeit.
Was definiere ich als „Weg“?
Ich war auf einer Zugreise nach Hamburg, als ich keine Lust hatte zu lesen, keine Lust Musik zu hören oder mich irgendwie mit meinem Smartphone abzulenken (geht auch nicht mehr so gut – aus Selbstschutz habe ich die sogenannten sozialen Medien verbannt), also schaute ich aus dem Fenster und genoss den Blick in die Landschaft.
Wenn ich versuchte, mich zu konzentrieren und zu schauen, was ich alles sehe, fiel mir auf, dass natürlich viele Details verloren gingen, denn meine Augen beziehungsweise mein Gehirn war zu langsam, um alles festzuhalten. Es erschien mir wie eine Langzeitbelichtung, aus der vielleicht noch ein Detail hervorquillt, aber die Bewegung in der Unschärfe versinkt.
Einzelne Details konnte ich erfassen, doch es schien mir, das Große und Ganze blieb mir eigentlich verborgen (visuell gesehen oder auch im Ganzen?) – Was definiere ich als Weg? Da ich dennoch ein relativ kultiviertes Smartphonekind bin und in dieser Gesellschaft groß geworden bin, konnte ich es mir nicht verkneifen, griff zu meinem Smartphone und experimentierte mit der Kamera.
Ich benutzte dafür eine App, die nach Beschreibung Langzeitbelichtungen mit dem Smartphone ermöglichen soll. Auf einer Seite ist das wirklich so, aber mir scheint, dass die App dies mit einem Trick macht, der eigentlich nichts mit einer Langzeitbelichtung zu tun hat. Denn wie soll so eine Belichtung von drei bis sechs Sekunden ohne einen Neutralgraufilter überhaupt funktionieren (war ja ein sonniger Tag und nicht in der Nacht)?
Der Charakter der Fotos, die aus der App kamen, faszinierte mich dennoch. Vielleicht gerade aus dem Grund, dass es nicht eine klassische Langzeitbelichtung ist. Es wirkt, als ob die App mehrere Fotos macht, die dann zu einem verrechnet werden, also eigentlich eine Mehrfachbelichtung.
Es gelang mir, vorbeiziehende Landschaften einzufangen, wie ich finde, mit einer surrealen Anmutung. Aus diesem Herumexperimentieren sind die Fotos entstanden, die in dieser Serie zu sehen sind. Oft sind sie sehr verschwommen, es gibt Fragmente, die wir erkennen oder erahnen können.
Ich könnte mir vorstellen, dass sie unserer Wahrnehmung näher sind, als wir denken. Ist unser Hirn denn wirklich in der Lage, unsere Realität mit dieser physischen, geschäftlichen und kulturellen Geschwindigkeit überhaupt zu erfassen? Oder sind es nur Fragmente, die wir zu unserer Realität zusammenbauen?