20. April 2013 Lesezeit: ~6 Minuten

Corviale

In der Woche vor Ostern war ich für eine Woche in Rom, um meine Schwester, die dort seit zehn Jahren mit ihrem Partner lebt, zu besuchen. Ausgerüstet mit einer handlichen, unauffälligen EOS-M, der recht neuen spiegellosen Kamera von Canon, hatte ich eigentlich nur vor, moderne Architektur, Museen und einige Galerien in Rom zu fotografieren.

Nachdem ich am ersten Tag das MAXXI von Zaha Hadid fotografiert habe, standen am zweiten Tag das MACRO Museum und die Kirche Dio Padre Misericordioso von Richard Meier auf dem Plan.

Abends erzählte mir meine Schwester beim Essen von Corviale, eigentlich Nuova Corviale, einem gigantischen Wohnblock am Stadtrand von Rom. Corviale wurde von 1975 bis 1982 nach Plänen des Architekten Mario Fiorentino im Südwesten Roms errichtet.

Corviale © Ben Mezoudj

Der Betonblock ist 958 Meter lang und gilt als das längste Hochhaus Europas. Es gilt vielen als der Inbegriff aller Verfehlungen moderner Architektur, als gescheitertes Experiment utopischer Stadtplanung. Ein Problem des Corviale ist seine isolierte Lage weit vor den Toren Roms.

Was den Stadtplanern als optimale Voraussetzung erschien, nämlich quasi auf der grünen Wiese zu bauen, also auf einem historisch und städtisch unvorbelasteten Gelände, erwies sich für die Bewohner eher als Nachteil: Wer hier wohnt, lebt in der Peripherie, am Rande des Geschehens und die vorhandene Infrastruktur bietet nur wenige Verbindungen ins Zentrum.

Aber nicht nur die ferne Metropole ist ein Problem, es erscheint auch fast unmöglich, den Corviale auf eine sinnvolle Weise in das unmittelbare Umfeld zu integrieren. Einsam überragt der Betonklotz die Landschaft, ohne Bindung und Bezug zur Umgebung.

Corviale © Ben Mezoudj

Auf der einen Seite des Gebäudes erstreckt sich ein unübersehbares Meer schnell hochgezogener Durchschnittsbauten, meist wesentlich kleiner dimensioniert, aber ohne klar erkennbare städtische Struktur und wesentlich chaotischer als es die seinerzeit verpönten Altstädte jemals waren.

Corviale ist ein berühmt berüchtigtes Wohnviertel und als recht gefährlich verrufen. Illegale Wohnungen; Mieter, die keine Miete zahlen; Drogenhandel und ein Polizeipräsidium, das keinen wirklichen Schutz bietet, zeichnen Corviale, ironisch auch „Il Palazzo“ genannt, aus.

Corviale © Ben Mezoudj

Auf zehn Geschossen leben offiziell 6.000 Menschen, man kann aber eher von 9.000 bis 10.000 Bewohnern ausgehen. So ist die komplette 4. Etage illegal bewohnt, denn hier sollten eigentlich Geschäfte, Praxen und Büros angesiedelt werden.

Allerdings wurde diese schon vor der Fertigstellung Corviales durch die Mietpreisexplosion in der Innenstadt illegal besetzt. Bei den Römern hat dieser Bau die Spitznamen Il Serpente (die Schlange) und auch Il Mostro (das Monster).

Corviale © Ben Mezoudj

Ganz fertiggestellt war der Corviale auch zum Zeitpunkt der offiziellen Eröffnung 1982 nicht und bis heute finden sich hier und da noch vorläufige und improvisierte Lösungen, während an anderen Stellen schon der Zahn der Zeit nagt.

Der Komplex blieb in den folgenden Jahren weitgehend sich selbst überlassen, mit der fast zwangsläufigen Konsequenz, dass sich eine Grauzone aus Schattenökonomien, Illegalität und Rechtlosigkeit entwickelte.

In den italienischen Medien tauchte der Corviale fast nur noch im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution auf und es gehört zum Standardrepertoire populistischer Kommunalpolitiker, die Umsiedlung der Bewohner und die Sprengung des gesamten Komplexes zu fordern.

Corviale © Ben Mezoudj

Wir sind also noch am gleichen Abend dahin gefahren. Allerdings war es meiner Schwester zu riskant und sie riet mir davon ab, dort abends mit der Kamera herumzulaufen. Sie kennt eine Bewohnerin in Corviale und hat mir viel Erstaunliches erzählen können.

Am nächsten Tag sind wir vormittags hingefahren. Ausgerüstet mit einem 18-55 mm Objektiv und einem kleinen Blitz habe ich versucht, Corviale zu erfassen.

Corviale © Ben Mezoudj

Und obwohl die Umgebung nicht einladend war, haben wir uns entschlossen, den Bau auch von innen zu erkunden. Da meine Schwester perfekt Römisch spricht, war es auch einfach, die Bewohner anzusprechen.

Es war etwa Mittagszeit und nur wenige Menschen waren anzutreffen. Zunächst haben wir sie angesprochen und gefragt, ob sie dort wohnen. Dann hat meine Schwester sie höflich gefragt, ob ich sie fotografieren darf. Die meisten waren aufgeschlossen und neugierig, eine Frau kam auf uns zu und wollte wissen, ob in Corviale nun was passiert.

Corviale © Ben Mezoudj

Wir erklärten ihr, dass wir Fotos über Architektur am Rande Roms machen. In dieser unheimlichen Kulisse zeigten die Bewohner dennoch Stolz und Würde, auch wenn die Perspektiven in Corviale nicht wirklich aussichtsreich sind. Ein paar jüngere Männer hatten allerdings gar kein Interesse an Fotos, da sie wohl gerade von einem Dealer kamen.

Mir hat besonders gefallen, wie einige Bewohner mit Pflanzen vor der Wohnung etwas Farbe in diesen Block brachten und so etwas Natur ins Haus holen. Dazu muss ich sagen, dass ich in den letzten Monaten viele Landschaftsfotos gemacht habe.

Corviale © Ben Mezoudj

Typisch für meine Fotos ist, dass sie (fast) nie Menschen zeigen. Hier war es anders, ich habe es als erforderlich empfunden, auch die dort lebenden Menschen zu zeigen.

Ich habe erst nach meiner Rückkehr mehr über Corviale gelesen und recherchiert. Mir ist dabei aufgefallen, dass es nicht wirklich viele gute Fotos aus dessen Innenleben gibt. Ich glaube, dass Corviale keine 50 Jahre mehr existieren wird. Sicher ist es ein Lösungsansatz, in großen Gebäuden wie Corviale viele Menschen unterzubringen. Aber für die Bewohner ist Corviale ein Stigma.

Corviale © Ben Mezoudj Corviale © Ben Mezoudj

Wer in Corviale lebt, ist am Rande der Gesellschaft. Als Sohn eines Einwanderers kann ich das gut nachvollziehen und halte Ghettobildung für fatal. Integration findet dort nicht statt. Darum war es mir ein großes Bedürfnis, an diesem Beispiel zu zeigen, wie brutal diese Architektur am Rande der Stadt ist.

Die Bildbeschreibungen auf meiner Webseite sind sicher nicht objektiv. Aus meiner Sicht gibt es auch keine Objektivität in der Fotografie. Schon die Wahl eines Bildausschnittes ist subjektiv und niemals ist ein Foto die Abbild der Realität, sondern nur ein Blick auf eine bestimmte subjektive Wirklichkeit.

Corviale © Ben Mezoudj



Mein Lieblingszitat, das ich auch als Motto auf meiner Facebook-Seite gepostet habe, stammt von Werner Heisenberg (dt. Physiker, Nobelpreis 1932):

Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern eine von uns gestaltete Wirklichkeit.

21 Kommentare

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  1. Das sind jetzt keine Fotos, die man sich in in der Wohnung an die Wand hängt, aber ich finde die Idee und die Umsetzung, so einen Schandfleck zu dokumentieren sehr gut. Auch mit dem Hintergrund der dort wohl herrschenden Kriminalität ein Stück weit mutig, dort zu fotografieren.
    Ich finde es sehr interessant, wie man so ein Ghetto in ein einziges Gebäude unterbringen konnte. Auf die Idee muss man erstmal kommen. Von Anfang an hätte es den Planern eigentlich klar sein müssen, dass das keine richtige Zukunft hat. Zumal das Gebäude alles andere als attraktiv erscheint. Es erinnert an die „schönen“ Plattenbauten in (Ost-)Deutschland.

    So stellt man sich weder Italien, noch Rom vor. Daher finde ich den Artikel sehr gut, da er ungeschminkt auch mal die Schattenseiten zeigt, die von Fotografen und Touristen nie besucht werden.

  2. Sehr gute Reportage, alle Achtung.
    Wusste gar nicht, dass einen Architekturfotos so aufwühlen können. Ich bin zwar früher auch bei verschiedenen Städte-Besuchen zu den jeweils berühmten „Wohnhäusern“ gepilgert, aber oft war es mir zu gefährlich und einen Fotoapparat hatte ich auch keinen dabei.
    Bei Ihren Fotos kann man sich sehr gut diesen „Wohnblock“ in Rom vorstellen und außerdem sind die Fotos sehr gut gemacht ([fast] keine stürzenden Linien, …:-).
    Merci vielmal

  3. Toller Artikel, sehr interessante Beschreibung. Es lief vor einiger Zeit eine Fernsehreportage auf Arte oder 3Sat. Dort wurde das Thema in ähnlicher Weise behandelt. In zwei Wochen besuchen meine Frau und ich Rom, hätte Lust dorthin zu fahren. Ist mir aber doch irgendwie zu gefährlich.

  4. abgesehen von der tatsache, daß es eine objektive wirklichkeit nicht geben kann – es gruselt mich bei dem gedanken, daß ein solches architektonisches monster wirklich existiert…
    eine sehr beeindruckende reportage!

  5. Wirklich ein sehr beeindruckender Artikel. Die Fotos empfinde ich als äußerst gelungen, weil sie genau das vermitteln, was auch der Artikel beschreibt. Eine tolle Serie mit einer nachdenklich stimmenden Geschichte dahinter.

  6. Sehr guter Artikel, der einen schwerer atmen lässt ;
    Grasse Fotos – Eine Wirklichkeit !
    Kaum zu glauben, aber wahr !

    Rom steht (trotzdem ) noch meiner Kennenlern-Liste !

  7. Hallo Ben,
    ein sehr in formativer Bericht und gute Fotos von einem „Monster“.
    Deine Ansichten zu den dort herrschenden sozialen Verhältnissen
    und zur Ghettobildung teile ich uneingeschränkt.
    Prima, dass Du so viel machst und Deine Eindrücke auch so vielen
    Menschen zugänglich machst!
    Weiterhin viel Erfolg!
    Viele Grüße
    Josef

  8. Hallo Ben,
    Ich habe mich etwas getummelt in Deiner „Kuenstlerwelt“ und viel schoenes, verbundenenes und nachdenklichkeit gesehen. Vielen Dank dafuer.
    Deine Offenheit und Deine Schilderungen koennten moeglicherweise der Unterschied sein, warum du erfolgreich sein wirst mit dem, was du tust.
    Ich wuensche Dir auf alle faelle dass du auch ein wenig Knete machst damit, was natuerlich nicht die Hauptsache waehre, aber schoen waehrs doch, oder?
    Ich besuche immer mehr Gallerien und Kulturelle Veranstalltungen und es ist immer wieder verblueffend was so Ausgestellt wird. Ich bin ein boeser zynischer Mensch und weis ganz gut was mir gefaellt, man muss sich halt verkaufen und Deine Sachen sind gut, aber was besser ist, ist die Erklaerung dahinter, wie von der Roemischen Gropiusstadt.
    Gestern war ich in einer Veranstaltung , in der ein Australischer Maler, welcher auch fast am sterben war und sein Leben umgekrempelt hat, erzaehlt hat, wie es zu seinen Bildern kam.
    Sein Name ist Matthew Quick. Hat mich bewegt.
    Machs gut mein Freund, Ich wuensche Dir alles gute und viel Erfolg,
    Ralf Fiebiger