Fotografie ist Therapie
Vor einer Weile schon ist mir etwas aufgefallen. Etwas, das mich überrascht hat und eigentlich doch ganz logisch ist.
Ich saß zufrieden in eine Decke gekuschelt auf dem Sofa und habe eine Zoosendung angesehen – ich finde, es gibt nichts Entspannenderes als Zoosendungen! – als mir plötzlich auffiel, dass ich schon seit fast zwei Wochen kein einziges Foto gemacht hatte. Über Jahre hatte ich nie länger als drei Tage keine Bilder gemacht. Wenn es sonst nichts gab, bin ich für Selbstportraits mit meiner Kamera losgezogen.
Wieso also lag das arme Wunderding nun so lange unbeachtet im Schrank? Ich hatte nicht weniger Zeit als sonst gehabt. Ich hatte einfach kein Bedürfnis, Fotos zu machen.
Ich fing an, mich zu fragen, was mit mir los sei, suchte nach allen möglichen Gründen, fand aber nichts. Es dauerte noch eine ganze Weile bis mir etwas auffiel: Ich war zufrieden und ausgeglichen. Mir fiel kein einziges Problem ein, das mich beschäftigte, es ging mir einfach nur gut.
Zum ersten Mal begriff ich, dass das erste, was ich immer tat, wenn es mir schlecht ging, wenn ich traurig oder verwirrt war, wenn mich etwas sehr beschäftigte, war, dass ich mir meine Kamera schnappte und Fotos machen ging. Je mehr ich darüber nachdachte, desto offensichtlicher wurde es.
760 Fotos in meinem Flickrstream, davon 500 Selbstportraits und dennoch kennt fast keiner der Betrachter mein Lächeln. Wenn jemand über meine Fotografien schrieb, fielen Worte wie „ausdrucksstark“, „ehrlich“, „ungefilterte Emotion“, „verletzt“ und „dunkel“.
Und sie haben Recht. Vor meiner Kamera lasse ich jede Fassade fallen, erzähle mit Blicken und Bewegungen davon, was mich bedrückt und sie hört zu, versteht mich und antwortet mit leisem Klicken. Es fühlt sich gut an, alles zeigen zu können und so ehrlich zu sein, wie man es nicht einmal zu seinem Spiegelbild ist. Während diesen Therapiestunden lasse ich alle Gefühle zu, die ich im Alltag hinter einem Vorhang verschleiere. Es fühlt sich an, als könnte ich meine Gefühle während des Fotografierens analysieren und ordnen.
Wenn ich meine Kamera dann schließlich ausschalte, geht es mir besser. Ich habe einen Teil der Trauer, der Wut, der Unsicherheit an meine Bilder abgegeben. Sie sind darin festgehalten und werden für immer eine Erinnerung sein. Ich kehre oft zu ihnen zurück und sehe, was sich verändert hat und was ich daraus gelernt habe.
Wenn ich mir jetzt dieses Bild von meinem halbjährigen Auslandsaufenthalt in Cardiff ansehe, weiß ich wieder genau, wie ich mich gefühlt habe: Ich hatte Heimweh und vermisste Freunde und Familie, ich schaffte es einfach nicht, mich einzugewöhnen und der tägliche Regen trug nicht unbedingt zu einer besseren Stimmung bei.
Ich war so unglücklich wie lange nicht, wollte einfach nur weg. Abends auf dem Weg von der Uni zu meinem Zimmer hatte die Kamera wie immer im Rucksack dabei und als ich den kleinen von Laternen gesäumten Weg entlang ging, war es plötzlich glasklar, dass ich sie herausnahm, auf das Stativ stellte und mir selbst eine Therapiestunde verschrieb. Es tat unglaublich gut, die Alles-okay-Fassade abzulegen und zu zeigen, was ich fühlte.
Wenn man dann erst einmal alle negativen Gefühle freigesetzt hat, ist auch endlich wieder Platz für positive.
Ja, wahrscheinlich würde ich mich nun auch selbst für ein wenig komisch halten und nach Tassen in meinem Schrank suchen, wenn ich nicht unter vielen Fotos im Netz die Notiz „self portrait therapy“ gefunden hätte.
Es geht also nicht nur mir so. Es scheint, als würde diese Therapie bevorzugt mit Hilfe von Selbstportraits funktionieren. Wahrscheinlich, weil man sich so intensiv mit sich selbst auseinandersetzt. Es wäre jedoch sehr interessant zu erfahren, ob auch Fotografen aus ganz anderen Genres diese Erfahrung machen.
Ich bin jedenfalls dankbar, dass ich zwei meiner Fotografenfreunde überreden konnte, im Folgenden auch ihre Erfahrungen preiszugeben.
Nikolas: „Fotografie als Therapie – für mich? Ich könnte jetzt so ganz plump sagen: Alle meine Fotos und der Prozess dahinter, der ganze Gedanke, all das wirkt auf mich wie eine Therapie. Und das wäre nicht mal gelogen. Gerade diese Wirkung von Kunst, neben der Ehrlichkeit, die durch das Fotografieren ermöglicht wird, ist enorm wichtig für mich.
Aber speziell diese eine Serie, ‚memorials‘, entstand in erster Linie aus dem Antrieb, Gefühle und Erinnerungen zu verarbeiten. Zu sehen sind Orte allseits gewöhnlich; eine Straße, eine Wiese, für andere nichts Besonderes. Aber eben genau diese Orte sind für mich so viel mehr als nur ein wenig Asphalt oder ein paar Grashalme, wild aneinander geordnet.
Nein, diese Orte sind ein Teil von mir. Also fing ich an, diese Teile genauer zu betrachten: An was erinnern sie mich, welche Gefühle geben sie mir, wie fühle ich mich eigentlich gegenüber diesen Orten? All das habe ich in das Endergebnis mit einfließen lassen. In Licht, Schatten, Ausschnitt, Komposition. In diesen Moment, in dem ich nun da stand, die Kamera im Rücken, wie eine Statue. All das für ewig einzufangen, ein Denkmal zu erschaffen.
Wenn ich jetzt an diesen Orten bin, sind sie nicht mehr wirre Gedanken – noch weniger sind es die Erinnerungen, die an ihnen stattfanden. Es ist nicht mehr dieser Kuss, all diese unverständlichen Tränen, dieses flatternde Gefühl in meinem Bauch, sein Gesicht, unser Abenteuer – es ist alles verpackt, geordnet. Schön und ordentlich zusammengekehrt wie welkes, nasses Laub, dekorativ zu einem Haufen.
Jetzt habe ich damit abgeschlossen. Ferner, aber immer noch nah. Greifbar eben, immer wieder abrufbar. Diese Orte sind jetzt mehr das Foto und all das, was dieses Foto für mich bedeutet. Nicht mehr und nicht weniger. Ich denke, kein Therapeut könnte mich dazu bringen, in dem Maße mit etwas abzuschließen, wie ich es mit dieser Serie tue.
Und das Schönste an all dem ist, dass sie kein Ende nimmt. Es werden immer neue Orte kommen, neue Erinnerungen und es werden immer neue Fotos entstehen. Es ist wie ein Tagebuch, wenn auch in einem anderen Maße und wenn ich so darüber nachdenke, werde ich wohl niemals damit aufhören. Niemals dieser Serie ein Ende setzen. Und das ist irgendwie ein positiver Gedanke, der allein so schon beruhigend auf mich wirkt.“
Rona: „Es gibt nicht viele Dinge in meiner Welt, die mir so wichtig sind wie Freundschaften und wenn ich abends mit einem Lächeln auf dem Gesicht einschlafe, weil ich eine anregende und aufschlussreiche Konversation mit einem guten Freund hatte, dann hätte der Tag fast besser nicht sein können.
Und trotzdem stehe ich oft vor demselben Problem, auszudrücken, was mir am meisten bedeutet, in Worte zu fassen, was ich eigentlich unbedingt loswerden will und Informationen zufriedenstellend zu übermitteln, weil ich vielleicht nicht einmal selbst genau weiß, wie es mir mit einer bestimmten Situation wirklich geht.
Über die Jahre habe ich gelernt, auf eine andere Art zu kommunizieren, aber vor allem zu reflektieren. Erster Ansprechpartner ist bei wichtigen Ereignissen in meinem täglichen Leben oft meine Kamera, die mir unendliche Möglichkeiten bietet, mich durch sie auszudrücken, im fertigen Foto übermittelt, was ich nicht in der Lage war zu sagen und mir oftmals sogar neue Sichtweisen eröffnet. Manche Dinge können und sollen nicht in Worten ausgedrückt werden. Und manche Fotos müssen nicht in Worten, sondern in Gefühlen geschrieben werden.
Es tut gut zu wissen, dass es zum Beispiel Rona und Nikolas ähnlich geht. Mit ihnen ist das gegenseitige Verständnis unserer Bilder auf einer ganz anderen Ebene. Aber nicht jeder kann sehen, was sie sehen und wissen, was sie wissen und genau deshalb kommen mir manchmal Zweifel.
Geht dieser emotionale Exhibitionismus zu weit? Gebe ich zu viel preis? Vermittle ich ein falsches Bild von mir? Menschen, die nur meine Bilder kennen, würden sich wundern, wie glücklich ich mit meinem Leben bin und wie viel ich lächle. Aber scheinbar brauche ich für all die positiven Momente eben keine Therapie.
Und nur um der Sache wegen, den Millionen von künstlichen Grinsebildern ein eigenes hinzuzufügen, in meinen Fotos quasi zu lügen? Nein, danke. Ich will echt sein. Und weil sie einfach so gut tun, diese echten Bilder, schiebe ich jeden Zweifel zur Seite.
Und ich glaube, genau deshalb schreiben mir immer wieder Menschen, dass sie sich in meinen Bildern wiedererkennen und dass sie die Emotionen darin berühren. Und gibt es etwas Schöneres, als die Betrachter mit einem Werk zu berühren? Für mich ist es das schönste Kompliment. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr das Motto meiner Fotografie genau dieses Gefühl wiederspiegelt: „Don’t look at me, just feel my soul.“
Also falls Ihr irgendwann denkt, Ihr könntet einen Therapeuten brauchen, schnappt Euch Eure Kamera. Diese Therapie ist kostenlos und die Schweigepflicht wird in 100% aller Fälle eingehalten. Ihr müsst Euch nicht auf ein Sofa legen, es gibt keine befristete Stundenanzahl und Euch muss absolut nichts peinlich sein. Für die kleinen Alltagssorgen ist sie jedenfalls ein Hausmittel, das es zu testen lohnt.