Linie gefällig?
Dass geometrische Abstraktionen ihren Reiz haben, erkannte ich für mich bereits relativ früh nach dem Kauf meiner ersten Digitalkamera. Hausfassaden und andere urbane Elemente standen seitdem im Zentrum meines Interesses. Ein besonderes Formelement im städtischen Raum, das ich in einer Serie versucht habe zu studieren, ist die Linie.
Auf den ersten Blick eröffneten sich mir nicht die Vielfalt und die gestalterischen Möglichkeiten, die Linien innewohnen, was sich aber nach einigem Experimentieren bei ausgiebigen Spaziergängen mit der Kamera schnell änderte.
Linien kommen in gerader, gewellter, gebogener oder gewinkelter Form vor, sie können in ihrem Erscheinungsbild breit oder schmal, unterbrochen oder durchgängig – und sicherlich noch vieles von mir Unerwähntes mehr – sein.
Ein klassisches Beispiel ist hier für mich die wellenförmige Linie, die Dynamik ausstrahlt und bei einer ganzen Serie von aufeinanderfolgenden Wellenlinien auch eine Art von Macht verkörpert, die in eine Richtung wirkt.
Hier drängt sich mir das Meer auf, das seine ganze Kraft an den Kliffen entfaltet. Gleichzeitig denke ich aber auch an Organisches, wie Rückenpartien oder die Wirbelsäule, die dem gebogenen Charakter der Linie entsprechen.
Von dieser geschmeidigen Art der Linie weg, beherbergt die gerade oder verwinkelte Linie eher Eigenschaften der Präzision bzw. der Konstruiertheit.
Geraden, die in einem ferneren Punkt zusammenzulaufen scheinen, können hier einen Eindruck von Unendlichkeit vermitteln und Verwinkelungen eine Verborgenheit oder einen labyrinthartigen Charakter entfalten.
Gleichzeitig kann die Beschaffenheit der Breite einer Linie maßgeblich dazu beitragen, ob etwas Filigranes oder viel mehr eine Standhaftigkeit und Stabilität von uns wahrgenommen wird.
Das Abstrakte hinter diesen Attributen hat sich auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übertragen. So wird nicht selten eine „geradlinige Politik“ gefordert oder „in den entlegensten Winkeln des Landes“ nach etwas gesucht. Wer ein „Strich in der Landschaft“ ist, wird sicherlich mehr als zart denn robust wahrgenommen…
Fotografisch lassen sich solche Bilder natürlich hervorragend im städtischen Umfeld erforschen. Die Linie spielt in der Architektur eine herausragende Rolle und die gewählte Linienform kann den Charakter eines Gebäudes maßgeblich bestimmen.
Ich denke hier beispielsweise an Wolkenkratzer, die durch ihre Geradlinigkeit und auch Höhe endlos erscheinen oder das „Shell-Haus“ in Berlin, das durch seine Bauweise einer einzigen „Welle“ gleichkommt.
Es ist lohnenswert, sich einem Gebäude (oder einem anderen Objekt) auch mal ausschnitthaft zu nähern und das große Ganze mal außer Acht zu lassen, da durch solche Aufnahmen nicht selten das Abstrakte besser zur Geltung kommt.
Ganz puristisch bin ich in meiner Serie zugegebenermaßen nicht immer vorgegangen. So kommen zur reinen Linienform nicht selten noch weitere Elemente wie Farbe und Fläche hinzu, ohne die manche Bilder nicht ihre volle Wirkung entfalten könnten.
Hier ist in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob man die minimalistische Variante zur Präsentation wählt oder ob weitere Formelemente den Liniencharakter unterstreichen können.
Auch in der Nachbearbeitung ist durch den Einsatz von Kontrasten möglich, dass ein Bild einen sehr grafischen, beinahe schon computergenerierten Eindruck vermittelt und die Natur der Linie noch besser erkenntlich gemacht wird.
Hier lässt sich beispielsweise durch eine hoch-kontrastierte, schwarzweiße Farbgebung der Linienverlauf noch besser herausarbeiten.
Abschließend bleibt mir nur zu sagen, dass meine Studie der Linie sehr abwechslungs- und spannungsreich gewesen ist. Es ist erstaunlich, wie alltägliche, meist gar nicht wahrgenommene Elemente auf einmal ihren Reiz entwickeln können.
Als ich mich gedanklich spezialisiert und meinen Fokus auf genau diesen Themenbereich gerichtet hatte, eröffneten sich ganz neue Perspektiven – selbst an mir wohlbekannten Orten.
Die Beschäftigung mit der Linie lohnt sich, da sie als Element in fast jedem Foto und auch vielen anderen Kunstformen vorkommt. Enden möchte ich daher mit einem in meinen Augen sehr passenden Zitat von Walter Crane aus seinem Buch „Line and Form“* (1914, S. 47, 48).
We see, therefore, that line possesses a constructive and controlling function, in addition to its power of graphic expression and decorative definition. It is the beginning and the end of art.
Wir schlussfolgern, dass die Linie über ihr grafisches Ausdrucksvermögen und ihre dekorative Funktion hinaus, auch eine konstruktive und kontrollierende Funktion erfüllt. Sie ist der Anfang und das Ende von Kunst.
* Das Buch steht beim Projekt Gutenberg frei zum Download zur Verfügung.