19. September 2012 Lesezeit: ~9 Minuten

In den Slums von Tansania

Für ein Semester den Hörsälen fernbleiben und stattdessen in Tansania leben: Diesen Traum darf ich mir gerade erfüllen. Ich bin allerdings nicht nur zum Rumreisen hier. Das knappe halbe Jahr südlich des Äquators solle trotz der Verlockung nicht nur aus Expeditionen in die Wildnis bestehen, sondern vor allem aus sinnvoller Arbeit.

Dennoch wollte ich für Ausflüge adäquat ausgerüstet sein, auch wenn ich schon vor der Abreise wusste, dass meine Ausrüstung, bestehend aus einer Canon 5DI sowie den drei Festbrennweiten Canon 28mm f/2.8, Zeiss 50mm f/1.4 und Canon 85mm f/1.8, für eventuelle Safaris telemäßig eher suboptimal ist. Mein Geldbeutel ließ jedoch nichts anderes zu als das mitzunehmen, was schon vorhanden war.

Während die meisten Freiwilligen entweder aus dem akademischen Bereich der sozialen Arbeit, der Pädagogik oder der Medizin kommen und deshalb inhaltlich wirksam in Schulen und Krankenhäusern arbeiten können, wusste ich mit meinen Psychologie- und Werbetexter-Kenntnissen nicht direkt, wohin mit mir.

Das Projekt, für das ich mich bis Mitte Dezember verpflichtet habe, nennt sich „Social Reality Tour“ und gibt Gästen des Landes Einblicke in das tatsächliche Leben in Tansania, von dem man als Tourist sonst nicht viel mitbekommt. In ganz kleinen Gruppen von zwei bis drei Leuten besucht man zusammen mit einer Sozialarbeiterin namens Mama Kishe die Slums rund um Moshi und trifft Menschen, die den Gästen ihre Geschichte erzählen.

Mama Kishe kümmert sich neben ihrer eigentlichen Arbeit als Krankenschwester um über 60 Familien, die Unterstützung brauchen. Während der Sozial Reality Tour begleitet sie die Gäste und übersetzt das Gespräch ins Englische. Jeder Gast zahlt umgerechnet knapp 10€ für die Tour, die direkt an die besuchten Personen gehen. Direkt, von Hand zu Hand, so kommt 100% des Geldes dort an, wo es benötigt wird.

Unser erster Besuch führte uns zu Bernhard. Ein Hahn kreuzte unseren Pfad, als wir uns auf dem Weg zu seiner Hütte mehrfach verliefen. In Pasua, einem Armutsstadtteil von Moshi, besuchten wir den 19-jährigen Jungen, dessen Eltern beide seit vielen Jahren tot sind. Er war allein. Wir waren zu viert.

Er lächelte schüchtern, als er uns die Hände schüttelte und uns hereinbat. Karibu sana. Herzlich willkommen. Die Wände seiner Behausung waren undicht und löchrig, trotzdem war es innen nahezu stockdunkel. Es gab dort keinen Strom und kein Wasser. Tansania bietet keinerlei staatliche Unterstützung für Waisenkinder. Alles, was Bernhard isst und besitzt, stammt aus den Gaben seiner Nachbarn und fremder Menschen, die ihn besuchen kommen. Menschen wie wir.

Zusammen saßen wir in dem Haus, das sein Vater vor seinem Tod zu bauen begann, und er erzählte uns seine Geschichte. Wie seine Eltern starben, wie er das Haus mit Schlamm und Lehm abgedichtet hat, damit keine Schlangen mehr Unterschlupf bei ihm suchen. Wie sehr er Gott dafür dankt, dass dieser ihm Freunde schickt, die ihm helfen.

Was er sich für die Zukunft wünsche, fragten wir, und wurden uns sofort der Vermessenheit unserer Frage bewusst. Die meisten Jugendlichen hier in der Gegend, die sein Schicksal teilen, driften früher oder später in die Kriminalität ab, überfallen Touristen und finden verständlicherweise ihre einzig verbleibende Lebensfreude im Drogenkonsum.

Das Gefühl beim Anblick dieses schüchternen Jungen, der in hellblauem Polo vor uns saß, lächelte und mehrfach betonte, wie dankbar er ist, dass wir da sind und uns für ihn interessieren, ist nicht adäquat in Worte zu fassen. Er möchte wieder eine Schule besuchen und später eine Lehre als Tischler machen.

Doch für beides fehlt das Geld. Stolz zeigte er uns zwei kleine Hocker, die er hergestellt hat. Er schaute aus dem kleinen Drahtgitter in seiner Wand nach draußen. Es wird weitergehen für ihn. Er hat Pläne für die Zukunft. Doch was er in nächster Zeit essen soll, ist völlig unklar.

Meine Aufgabe für die nächste Zeit wird es sein, den ganzen Ablauf der Social Reality Tour zu optimieren, die Website zu überarbeiten, Informationen zu recherchieren und verständlich zu präsentieren, sodass Gäste der Tour auch faktenbasierend ein besseres Gefühl für die soziale Realität in Tansania bekommen und mit mehr Verständnis und Empathie in die Heimat zurückreisen.

Zwei Tage nach unserem Gespräch mit Bernhard besuchten wir ein kleines Mädchen namens Queen. Als Queen gerade einen Monat alt war, legte ihre Mutter sie am Haus ihrer Großmutter ab und verschwand für immer. Jetzt ist sie elf Jahre alt. Ihre Großmutter wurde HIV-positiv getestet und reinigt die Kleidung anderer Leute für 2000 Tansanische Schilling pro Tag.

Das ist 1€. Dieses Geld muss einen Haushalt von vier Menschen ernähren. Im nächsten Jahr dürfte Queen nicht mehr in die Schule gehen, wenn ihre Familie die Schulgebühr nicht mehr bezahlen kann. Diese beträgt 15€. Im Jahr.

Ein ähnliches Schicksal wie Queen erlebte vor vielen Jahren der mittlerweile 16-jährige Joshua. Seinen Vater hat er nie kennengelernt und seine Mutter ist, genauso wie die Großeltern, bereits lange tot. Er lebt zusammen mit seiner Urgroßmutter Salome genauso wie Bernhard in Pasua. Da die Familie die Schulgebühren nicht bezahlen kann, versucht Joshua durch einen Nebenjob bei einem lokalen Mobilfunkanbieter etwas Geld zu verdienen, doch von den 25 Cent pro Stunde bleibt kaum etwas übrig.

Seine Uroma Salome bekommt ein wenig Unterstützung von der Kirche, umgerechnet 10€ im Monat. Dieses Geld muss für die beiden reichen. Salome ist alt. Sehr alt. Sie sagt, sie sei 110 Jahre alt. Doch das weiß man hier nie so ganz genau. Sie redet viel und energisch. Und sie lacht sich schlapp, weil ich ihren Aussagen auf Swahili nicht folgen kann. Mama Kishe übersetzt tapfer.

~

Warum fotografiere ich diese Personen? Weil ich es fragwürdig finde, wie Menschen in Afrika oft dargestellt werden. Trotz der bitteren Armut, der ich hier begegne, habe ich noch keine weinenden Kinder mit zerfetzten Klamotten gesehen, die um Hilfe schreien, wie es uns oft in Werbefilmen von Hilfswerken glaubhaft gemacht wird.

Niemals zuvor habe ich in so viele strahlende Augen geblickt. Um mich herum leben Menschen mit Zielen, Wünschen für die Zukunft und einem unglaublichen Maß an Dankbarkeit und Stolz. Dies möchte ich fotografisch festhalten, um die Menschen hier, die am unteren Rand jeder vorstellbaren Existenzgrenze leben, aus den abstrakten Zahlen der Armutsstatistiken zu befreien.

Wir alle kennen die Datenlage, doch wer von uns kann nachvollziehen, was diese Zahlen im Alltag bedeuten? Wie lebt es sich, wenn man pro Tag einen Euro hat, um eine Familie satt zu kriegen? Welche Spuren hinterlässt so ein Leben im Gesicht der Menschen?

Unser nächster Besuch führte uns zu Juma-Ali. Der liebende Vater von drei Kindern arbeitet als Schneider und verkauft Hosen und Hüte auf dem örtlichen Markt. Doch vor vier Jahren brach bei ihm plötzlich eine schwere Hautkrankheit aus. Überall auf seinem Körper bildeten sich schmerzhafte Ekzeme und fast wäre er daran gestorben. Weil er nicht in der Lage war, seine Familie zu versorgen, ließ seine damalige Frau ihn und die Kinder alleine zurück.

Noch immer benötigt er Medizin, doch die 35 US-Dollar pro Monat für die Salben kann er nicht aufbringen. Also arbeitet er unter Schmerzen, zumindest ein paar Stunden pro Tag, um das Geld zu verdienen, das für den aktuellen Tag benötigt wird und wenigstens einen kleinen Teil der Schulgebühren für die 18-jährige Tochter Anna-Melissa zu bezahlen. Ob er es schafft, den Rest aufzubringen, bevor sie die Schule verlassen muss, ist ungewiss.

Ich habe manche der hier präsentierten Fotos bereits in verschiedenen Foren gezeigt und plötzlich kamen, ohne dass ich danach gefragt habe, Menschen auf mich zu und wollten spenden. Ich bin begeistert von dieser Großherzigkeit.

Von der Summe, die dabei zusammenkam, konnten wir einem Waisenjungen eine Ausbildung zum Schreiner ermöglichen, die er sich so sehr wünscht und die er braucht, um irgendwann auf eigenen Beinen stehen zu können. Queen, ein Mädchen, das im Alter von einem Monat ausgesetzt wurde, konnten wir die Schulgebühr für das nächste Jahr bezahlen.

Natürlich ist das alles ein Tropfen auf dem heißen Stein, das weiß ich auch. Aber irgendwie muss man auch realistisch bleiben. Ich bin leider kein Arzt und kann hier keine Leben retten. Alles was ich tun kann, ist, die Geschichten dieser Menschen nach draußen zu tragen. Wenn dadurch auch nur ein paar Euro zusammenkommen, ist das schon eine große Sache.

Ähnliche Artikel