Tilt- und Shift von Rainer Mirau
11. Mai 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Tilt- und Shift an der Kleinbild-DSLR

Neben einer möglichst hohen Auflösung sind für mich als Landschaftsfotograf die technischen Finessen einer Fachkamera ein wichtiger Faktor, um zu optimalen Bildergebnissen zu gelangen. Das heißt aber zum Glück nicht, dass ich zehntausende Euro in ein schwerfälliges, digitales Mittelformatsystem investieren muss.

Mehrere Hersteller haben den Bedarf erkannt und in den letzten Jahren neue oder überarbeitete Tilt- und Shift-Objektive (kurz: TS) für Kleinbild-DSLR-Kameras auf den Markt gebracht. Der Kauf eines Canon TS-E 24mm II hat meine Arbeitsweise revolutioniert. Warum, möchte ich Euch hier nun genauer beschreiben.

Copyright Rainer Mirau

Baum-Greise im nordspanischen Gorbea-Naturpark. Nicht nur bei Architekturaufnahmen ist mir die perspektivisch korrekte Darstellung wichtig. Senkrecht gewachsene Stämme würden durch Herunterneigen der Kamera unweigerlich nach außen stürzen. Nur ein Shift-Objektiv kann das verhindern.

Fangen wir am Anfang an. Die Tilt- und Shift-Funktionen sind ein Erbe aus der Großformatfotografie und in der Landschafts-, Architektur- und Produktfotografie bis heute verbreitet im Einsatz. So viele Vorteile die digitale Fotografie bietet, Tilt und Shift sind durch Nachbearbeitung am Computer nicht zur Gänze ersetzbar. Software zur Erweiterung der Tiefenschärfe und Entzerrung gibt es natürlich, ihr Einsatz geht aber immer mit einem Qualitätsverlust oder intensivem Arbeitsaufwand einher.

Tilt bedeutet das graduelle Verschwenken, Shift das parallele Verschieben des Linsensystems gegenüber der Bildebene, also dem Sensor. Näher möchte ich den technischen Hintergrund hier jedoch nicht erklären, denn es gibt Webseiten, die das übernehmen. Ich möchte in diesem Artikel die konkreten Vorteile und Möglichkeiten beschreiben, die mir Tilt- und Shift-Objektive im Zusammenspiel mit einem digitalen Kleinbild-System bieten.

Größere Schärfentiefe durch Tilt

Durch Tilt besteht die Möglichkeit, die Schärfeebene zu kippen. Bei typischen Landschaftsmotiven kann die Tiefenschärfe nie groß genug sein. Im Idealfall kann mittels der Hyperfokaldistanz der gesamte Bildinhalt scharf abgebildet werden. Leider ist das, wenn überhaupt, nur mit Weitwinkelobjektiven möglich.

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Ruhiges Meer in Thailand. Auch, wenn dieses Motiv relativ einfach mittels Focus Stacking (Fokus auf Vorder-, Mittel- und Hintergrund) umsetzbar wäre – ein Tilt-Objektiv ermöglicht mir dasselbe Ergebnis mit nur einer Belichtung bei der optimalen Blende f/8.

Hier kommt die Tilt-Funktion ins Spiel: Durch Legen der Schärfeebene in die Motivebene wird es möglich, schon bei mittelgroßen Blenden wie f/8 oder f/11 alles scharf auf den Sensor zu bannen. Im Kleinbildformat kommt im Normalfall kein größerer Winkel als ein Grad zum Einsatz, meistens reichen schon 0,5 Grad, um vom Stein im Vordergrund bis zu den Gipfeln im Hintergrund alles scharf abzubilden.

Formatunabhängig durch Shift

Durch Shift in Kombination mit dem Zusammenfügen zweier Bilder ergeben sich weitere Vorteile für mich: Die freie Formatwahl und die Erhöhung der Pixelanzahl. Bezüglich der Formatwahl ziehe ich es vor, das Motiv darüber entscheiden zu lassen, anstatt dem Motiv das Format des Sensors aufzuzwingen.

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Singapur Financial District. Hier nutzte ich die Shift-Funktion nicht, um stürzende Linien zu vermeiden, sondern um den Bildwinkel zu erhöhen. Drei horizontale Einzelbelichtungen mit 24mm Brennweite ergeben ein Bild mit über 40 Megapixeln und einem Bildwinkel vergleichbar dem eines 16mm-Objektivs.

Durch die Möglichkeit des Shiftens ergibt sich eine auf den Bildinhalt abgestimmte Wahl des Seitenverhältnisses, das heißt: Ob quer- und hochformatige Panoramen, ein Quadrat oder 5:4 – alle Optionen bestehen. Und das Beste daran: Egal welches Format – die fertigen Bilder haben 30 – 100% mehr Bildpunkte.

Mir ist bewusst, dass man dies auch mit klassischem Stitchen erreichen kann, aber im Weitwinkelbereich kommt es zwangsläufig zu massiven Verzerrungen, die mir persönlich nicht gefallen.

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Mitternachtsonne auf den Lofoten. Das hochformatige Panorama ist ein vernachlässigtes Format in der modernen 16:9 Querformat-Welt. Ich genieße die Freiheit, ein Motiv in mehreren Seitenverhältnissen abzubilden – so habe ich auch ein quadratisches Bild von diesem Motiv gemacht.

Digitales Shift bei längeren Brennweiten

Seitdem ich mit dem Tilt-Shift-Weitwinkel fast jedes Bild stitche, mache ich das auch mit längeren Brennweiten. Bei nicht shift-fähigen, gewöhnlichen Optiken mit Brennweiten über 35mm bewege ich die Kamera bis zu 50% des Bildausschnitts entlang der kürzeren Sensorseite, um das Motiv optimal ins Bild zu rücken.

Das funktioniert hervorragend und ist ausnahmslos anwendbar, ohne den Nodalpunkt zu beachten. Dieses „digitale Shift“ betrifft natürlich nur die Qualitäts-Junkies unter uns, was ich als Landschaftsfotograf uneingeschränkt bin. Die einfachere, aber qualitätsmindernde Variante wäre nachträgliches Zuschneiden.

Kombination von Tilt und Shift

Wenn es das Objektiv zulässt und das Motiv es verlangt, werden Tilt und Shift kombiniert. Als erstes tilte ich die Linse, um die Schärfeebene optimal ins Motiv zu legen. Bei zehnfacher Vergrößerung am Display beurteile ich mittels Live-View die Schärfe an den Rändern und belichte das erste Bild. Danach shifte ich in die gewünschte Richtung und belichte ein zweites Mal. Die Einstellung der Belichtung erfolgt manuell, damit beide Bilder die gleiche Helligkeit haben.

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Goldenes Morgenlicht in den Zillertaler Alpen. Durch nur ein Grad Tilt erhalte ich Tiefenschärfe von einem Meter bis ins Unendliche. In Kombination mit Shift und dem Stichen zweier Querformate komme ich zum klassischen Großformat-Seitenverhältnis von 5:4.

Vignettierung

Durch die Nutzung des gesamten Bildkreises von Tilt- und Shift-Objektiven ist Vignettierung ein größeres Thema als bei gewöhnlichen Objektiven. Diese kann bei extremen Verstellwegen bis zu zwei Blenden betragen. Die Intensität von Verlaufsfiltern kann dadurch massiv verstärkt oder reduziert werden.

Die Vignettierungskorrektur einer Software ist in diesem Fall nicht geeignet, denn die Software weiß ja nicht, dass und wieviel geshiftet wurde. Sie geht immer von einer kreisrunden Abschattung aus, was bei geshifteten Aufnahmen nicht zutrifft. Die Vignettierung muss also von Hand in der digitalen Dunkelkammer erfolgen.

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Am Salfein See in Tirol nach Sonnenuntergang. Diese Vignettierung könnte ich mit Leichtigkeit in der Nachbearbeitung korrigieren, ich mache es aber nur, wenn sie mir nicht gefällt. In diesem Bild zum Beispiel empfinde ich sie als eher positiv, sie verleiht dem Bild ein analoges Aussehen.

Wie sieht es auf dem Markt für Tilt- und Shift-Objektive aus? Von der Neuauflage bis zum „alten Eisen“ gibt es ungefähr 20 Tilt-Shift- oder nur Shift-Objektive. Etwas tiefer in die Geldbörse muss man dafür schon greifen. Aber man bekommt ja auch weit mehr als ein Objektiv, die Frontstandarte einer Fachkamera ist inkludiert. Eine andere Variante ist die Verwendung von Tilt- und Shift-Adaptern, mit denen man den großen Bildkreis eines Mittelformatobjektivs an einer Kleinbild-DSLR nutzen kann. Mirex und Zörk bieten solche Produkte an.

Tilt und Shift sind nicht für Jedermann. Zum zwischendurch Knipsen im Urlaub ist eine Vollformat-DSLR mit Tilt-Shift-Objektiv nicht die richtige Wahl. Ein Stativ ist Pflicht und das höhere Gewicht der Objektive und die aufwändigere Arbeitsweise verlangen einen engagierten Fotografen. Ganz abgesehen von dem Loch, das ein modernes Tilt-Shift-Objektiv in die Geldbörse frisst.

Als Gegenleistung erhält man als Fotograf technische und gestalterische Freiheiten. Wer tiefer in die Materie der Möglichkeiten der Tilt- und Shift-Fotografie eintauchen möchte, interessiert sich vielleicht für mein kürzlich erschienenes E-Book zu diesem Thema.

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