Straßenfotografie mit dem Lensbaby I
Objektiv und Aufnahmesteuerung
Das Lensbaby gibt es mittlerweile in recht verschiedenen Bauarten. Ich selbst kann über Erfahrungen mit dem „Muse“. dem „Composer“ mit nominell 50mm kleinbildäquivalenter Brennweite (faktisch eher 56mm) und dem neuen „Composer Pro Sweet 35“ mit nominell 35 mm kleinbildäquivalenter Brennweite berichten.
Über die drei vorgestellten Varianten hinweg ist die Bedienung deutlich komfortabler, wenngleich weniger abenteuerlich geworden – was man gutheißen oder bedauern mag.
Musste man beim „Muse“ noch die Quadratur des Kreises meistern, gleichzeitig die Kamera sicher zu halten, mit beiden Händen das bewegliche Objektivvorderteil sowohl im Sinne der Verkippung wie auch der Fokussierung zu bewegen, die manuelle Belichtungskorrektur zu steuern und dann noch irgendwie auszulösen, so stellte beim „Composer“ das Kugelgelenk für das Kippen und der manuelle Einstellring für das Fokussieren einen wahren Quantensprung dar.
Beim neuen „Composer Pro Sweet 35“ kam ein Einstellring zur Blendenwahl hinzu, wodurch nun auch noch – quasi als letzter Rest des Abenteuers – das manuelle Einsetzen der Lochscheiben entfällt.
Trotz der verschiedenen Bauarten gilt bei allen Lensbabys das gleiche Wirkungsprinzip. Es handelt sich jeweils um ein einfaches Tilt-Objektiv ohne Shift-Funktion (Verschiebung), wobei die Verkippung mit dem beweglichen Objektivvorderteil gesteuert wird. Im Gegensatz zu den einschlägigen und teuren Tilt-Shift-Objektiven ergibt sich dabei jedoch keine Kippung der Schärfeebene im Bild im Sinne einer Schärfedehnung nach Scheimpflug.
Stattdessen existiert ein in seiner Ausdehnung über den Blendenwert variierbarer (siehe oben) und über das Bild durch die Verkippung verschiebbarer (siehe unten) Schärfepunkt, genannt „Sweet Spot“, der mit weitläufigen Unschärfebereichen in den restlichen Bereichen des Bildes kontrastiert. Leider verstehe ich selbst die physikalisch-optischen Grundlagen dieser Lensbaby-Eigenart im Einzelnen nicht so, dass ich darüber noch mehr sagen könnte.
Zur Aufnahmesteuerung gerade in freihändig-dynamischen Straßensituationen verwende ich bei der Canon EOS 5D Mark II die Blendenvorwahl. Die Einstellung Auto-ISO erlaubt es mir, mich nicht um eine verwacklungssichere Belichtungszeit kümmern zu müssen – denn die Canon EOS 5D Mark II arbeitet bis ISO 3200 derart sauber, dass das Bild mittels Scharzweißkonvertierung und Filmkornsimulation leichthin bereinigt werden kann – sondern mich auf das flüchtige Motiv konzentrieren zu können.
Die Serienbildfunktion ist eingeschaltet, denn trotz der gebotenen Beachtung des entscheidenden Augenblicks hat es sich wegen kleiner Details, etwa der Fuß- oder Handstellungen der Passanten, für mich bewährt, von einer Szene jeweils einige Bilder in rascher Folge anzufertigen.
Die manuelle Belichtungskorrektur passe ich den herrschenden Lichtverhältnissen an, da Überbelichtungen auch beim Lensbaby unschön wirken und die so verlorenen Details kaum mehr wiederherstellbar sind. Ein Abblenden um 2/3 bis 4/3 Blendenwerte ist ein guter Ausgangswert, zumal in der digitalen Nachbearbeitung die Details in den Schattenbereichen viel leichter herausgearbeitet werden können.
Innere Haltung und Motivsuche
Mancher wird sich vielleicht wundern, dass ich dieses Kapitel im technischen Teil des Artikels abhandle – das sei doch unzweifelhaft etwas Persönliches?! Das stimmt wohl, dennoch haben diese beiden Aspekte für mich mit der eigentlichen Bildfindung und damit dem kreativen Prozess noch nichts zu tun, sondern eher mit einer nötigen Vorbereitung darauf.
Über die Jahre habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich die nötige Inspiration vor Ort nicht einfach per Knopfdruck einschalten lässt, sondern wesentlich von der gedanklichen, gefühlsmäßigen und körperlichen Verfassung abhängt.
Konkret werde ich, wenn ich unter Zeitdruck mit einer Rieseneinkaufsliste durch die Stadt hetze, nicht im Vorübergehen noch Bilder machen können, die etwas Authentisches über die Umgebungssituation ausdrücken – allenfalls käme dabei etwas wie das Selbstportrait eines gehetzten, erledigungswütigen Menschen heraus.
Wenn wir staßenfotografisch losziehen, möchten wir uns ja mit allen Sinnen von der Umgebung beeindrucken lassen, dem Leben auf den Puls fühlen und dies in sprechenden Bildern festhalten. Es gilt also, uns ein wenig zu erden und soweit möglich bewusst zu machen, welche Themen uns gerade gedanklich beschäftigen, welche unterschiedlichen Empfindungen und Strebungen wir haben und ob wir uns körperlich wohlfühlen oder uns irgendetwas bedrückt.
Eine solche Herstellung innerer Achtsamkeit ist Teil verschiedener therapeutischer Methoden (wie Autogenes Training, EMDR, Grounding), so dass ich hier auf meinen Zweitberuf als Psychotherapeut zurückgreifen kann. Es ist aber ebenso Teil verschiedenster meditativer und kontemplativer Ansätze, sodass der Zugang zu solchen Ressourcen kein Nadelöhr ist.
Nun mag zwar mit der Bewusstmachung all dessen, was uns gerade gedanklich, gefühlsmäßig und körperlich bestürmt und umtreibt, keine automatische Auflösung verbunden sein. Wir gewinnen aber innere Distanz und können manches relativieren, ein wenig beiseite schieben oder gar wohldosiert in unsere Bildthemen einbauen.
Bei der Motivsuche bediene ich mich gern gewisser kompositorisch-dramaturgischer Vorgaben, die ich über die Jahre in meinem Bildgedächtnis abgespeichert habe. Zwei solcher Vorgaben aus dem straßenfotografischen Bereich möchte ich an dieser Stelle noch vorstellen und an Bildern veranschaulichen.
Szenen wie solche im obigen Bild sind statisch. Sie erscheinen wie Stilleben – nichts läuft einem hier weg, man kann sich in Ruhe in die Situation vor Ort einfühlen und dabei Vorder- und Hintergrund sowie Ausschnitt und Blickrichtung festlegen.
Konkret stolperte ich über dieses Schild vor den scharfkantigen Eisenteilen und der gruftig wirkenden Treppe in die Unterwelt. Alles wirkte sehr atmosphärisch, auch die Inspiration sagte „Das isses, das reicht“, und so ging ich folgsam an die bildliche Ausarbeitung im Sinne des oben Gesagten.
Eine ganz andere, dynamische Situation zeigt dieses Bild. Hier neige ich dazu, zunächst einen statischen Rahmen für das spätere Bild festzulegen. Dieser fand sich in Form der auf Zehenspitzen stehenden, insofern abgehobenen dunklen Schaufensterpuppe mit der seltsam bleichen Hand im Vordergrund, gekontert vom hellen Fahrzeug im Mittelgrund, malerisch umrahmt von Stadtgewusel im Hintergrund.
Hier sagte die Inspiration, „Nicht schlecht, aber da fehlt noch was“. Und so wartete ich, bis jener dunkle Mann erschien. Und ich wartete weiter, bis sein Kopf in Griffnähe der Hand der Schaufensterpuppe war – das war dann der Augenblick… sein misstrauischer Blick erklärte sich anschließend übrigens dahingehend, dass er Wachmann und mit irgendeiner Überwachung betraut zu sein vorgab.