27. März 2012 Lesezeit: ~4 Minuten

Monotonie

Wir saßen in der hintersten und schummrigsten Ecke von Clärchens Ballhaus. Die Lokalität konnte nicht besser gewählt sein. Im vorderen Teil war eine Tanzveranstaltung im Gange. Familien an den Tischen, Frauen im Berliner Schick mit Lackschuhen wirbelten umher. Livrierte Kellner stoben aufmerksam lächelnd durch die Gänge.

Und da saßen wir nun. Wir, das sind Robert Herrmann und ich. Der Grund unseres Zusammentreffens ist ein kleines Heftchen, das mir Robert schüchtern über den Tisch schob und nickte. „Wenn du einen Zugang dazu bekommst, dann freut es mich; wenn nicht, dann geht davon die Welt auch nicht unter.“, sagte er.

Vor mir lag ein tiefschwarzes Heftchen, ich konnte nicht viel erkennen und schob die Kerze näher heran. Und da flackerte das erste Wort auf: „Monotonie“. Dieses Gefühl war so gegensätzlich. Da saßen wir hier in einem Raum, der voller Leben war, hinter Robert tanzten die Menschen, unterhielten sich, schwatzten, lachten und da saßen wir. In dieser Ecke, in die das Licht kaum hin drang, wo uns die Kellner kaum sahen, wenn wir sie nicht zu uns winkten und dieses Wort leuchtete auf, war wie ein Strudel, der mich aus dieser Welt mitnahm in eine andere. Die Musik verstummte und mein Blick blieb im Schwarz hängen, Lichter auf grauem Asphalt, Lichter in der Dunkelheit.

Robert Herrmann hat versucht, ein Phänomen festzuhalten: Die Monotonie eines jeden Morgens in den Satellitenstädten, die sich um die Großstadt wie Gespinste legen. Einst von einem System zum Ideal einer funktionalen Stadt erkoren. Nun Schlafstätte in grauer Monotonie und als Wohnstätte wenig beliebt.

Bei einem Bild starrt man auf eine leere Informations- oder Werbetafel. Zu lesen ist nur noch ein leises „Wir…“ und der Rest der Botschaft liegt zusammengesunken im Gestrüpp. Auf einem anderen Bild sieht man eine Frau am Fahrkartenautomaten. Um sie herum graue und geradlinige Bahnhofsarchitektur und Menschen, die man kaum wahrnimmt.

Robert Herrmann stieg an mehreren Wintermorgen mit seiner Mittelformatkamera und mehreren Filmen Delta Ilford 3200 in die frühesten S-Bahnen und besuchte Friedrichsfelde, Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf. Herausgekommen ist dabei eine stille und nachdenklich machende Sinfonie einer Großstadt, unterlegt mit einem Gedicht.

~

one of these early winter mornings
it’s frosty
still dark
behind the frost patterned windows
of the bedrooms suburbs
a population rises
hours before the sun
thousands of people boot up
today another yesterday
or another tomorrow
the pale shine of the vapour lamps
lights the frozen way to the train station
the clock is ticking
everyone is in a hurry
chains of steel are wheeling
upon the tracks into the urban core
tiredness is dragging down faces
on their way to the jobs in the city

~

In den Bildern glaubt man, die Kälte des Morgens zu spüren. Aber auch die Stille der Nacht ist greifbar.

Ich fühle mich bei den Bildern an Wim Wenders Film „Himmel über Berlin“ erinnert. Denn wie der Engel Gabriel möchte ich mich neben sie setzen und ihren Gedanken lauschen. Welche Sorgen oder Freuden sitzen in ihren Köpfen, worüber sinnieren sie, wenn sie mit der Masse tagein und tagaus immer den gleichen Weg fahren?

Nun bin ich auf der letzten Seite angelangt. Dort funkelt der letzte Satz des Gedichtes … as everyday. Ich schließe das Heft.

Die Tanzveranstaltung neigt sich dem Ende zu. An den Nebentisch hat sich eine Frau gesetzt, sie tauscht ihre Tanzschuhe gegen Straßenschuhe und ganz kurz halten wir Blickkontakt, bis sie wieder in der Masse verschwindet. Ich schiebe Robert das Heft über den Tisch zu und nicke.

~

Wer nun ebenfalls einen Blick in das Booklet werfen möchte, kann sich hier noch einmal genauer informieren: „monotony – a booklet on early hour commuter traffic“ (PDF)

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