Bildvorstellung: nass sein
Zum Fotografieren bleibt mir seitdem ich studiere leider fast keine Zeit mehr. Jede freie Minute muss also genutzt werden – wenn das Wetter mitspielt.
Es ist einer dieser seltenen Sonntagmittage: Der Akku geladen, das Stativ steht, meine Kamera verlangt nach mir. Dass meine Schwester mir nachruft, dass es nach Regen aussieht, höre ich nur mit einem Ohr. Außerdem strahlt der Himmel in wunderschön konstantem Einheitsgrau. Nein, es wird nicht regnen.
Fünfzehn Fahrradminuten später – gerade habe ich das Stativ aufgebaut – fallen die ersten dicken Tropfen. Das ist dann der Moment, in dem ich mich entscheiden kann, ob ich im Regen nach Hause radle oder einfach so tue als gäbe es den Regen gar nicht. Ich überlege nicht lange.
Also volle Konzentration auf das Bild.
Die Geschichten meiner Bilder sollen nie Exaktes abbilden. Viel mehr soll das Bild den Betrachter anregen, seine eigene Geschichte zu erfinden. Mir war es wichtig, eine ‚sprechende Stille’ zu erzeugen. Durch die Blickrichtung und die Handhaltung, den blickführenden Weg und den aufgefächerten Rock.
Es soll nicht surreal sein, aber trotzdem ein wenig verwundern. Dazu fand ich es genügend, das Mädchen in der Mitte eines Weges sitzen zu lassen und ihre Arm- und Handhaltung ungewöhnlich zu gestalten.
Doch jeder soll sich selbst überlegen, ob sie eine Tänzerin ist, die an der frischen Luft geübt hat und sich gerade ausruht oder ob sie nur ein Mädchen ist, das gerade spazieren ging, der Platz sie zum verweilen einlud und der Regen ihr nichts ausmachte. Deshalb hat das Mädchen auch kein Gesicht, sondern nur einen Rücken. Ohne Gesicht gibt es mehr Eigene-Geschichte-Spielraum.
Um nicht komplett im Nassen zu sitzen habe ich mir dann einen gemütlichen Haufen aus etwas trockenerem Laub gebaut, auch um darauf fokussieren zu können.
Nur noch das umliegende Laub entfernen, die Kamera platzieren, den Selbstauslöser einschalten und dann zehn Sekunden ab jetzt: Gezielt auf den Laubhaufen setzen, den Rock zurecht legen, Kopf drehen, Handhaltu…- ‚klack’. Das erste Bild sieht dann noch so aus:
Die Perspektive gefällt mir, aber die Person ist noch zu klein und außerdem nicht perfekt scharf, vom Timing ganz zu schweigen.
Aber schon zwei ‚Klacks’ später bin ich zufrieden.
Zuhause habe ich dann die störenden Schilder wegretuschiert (Ausbessern-Werkzeug), den Weg betont (Abwedler-Werkzeug) und ein paar Kontrast- und Farbeinstellungen später (grün und rot betonen) ist das Bild fertig.
Ich bin froh, dass ich mich nicht in die Flucht habe schlagen lassen. Der Regen tut meinem Bild gut. Die Ruhe der Pose scheint durch die fallenden Tropfen fast greifbar. Durch die Handhaltung scheint es fast, als würde sie den Regen genießen. Das Nasswerden hat sich also gelohnt, aber jetzt habe ich mir erst mal eine heiße Dusche verdient.
Fast mehr als der Regen irritiert es mich übrigens, wenn ich gerade vor der Kamera im Nassen auf der Straße sitze oder eingerollt im nassen Gras liege und auf einmal kommt ein Spaziergänger mit Hund oder eine Joggerin vorbei. Beide peinlich berührt, auf der Suche nach der angebrachten Reaktion.
Ich lächle in mich hinein und denke gleichzeitig mit ihnen: Wer macht denn sowas?