20. Juni 2022 Lesezeit: ~12 Minuten

Warten auf Godeau: 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France

Letzte Woche erreichte mich ein kleines gelbes Buch. Darin fand ich Bilder unzähliger wartender Menschen. Worauf sie warten? Auf Godeau und andere Rennfahrer. Herman Seidl hat 30 Jahre lang am Straßenrand der Tour de France fotografiert – einer der größten Sportveranstaltungen der Welt. Und daraus einen etwas anderen Bildband gemacht.

Hallo Herman, Du hast 30 Jahre lang die Tour de France fotografiert. In Deinem Bildband dazu sieht man aber nicht einen einzigen Rennfahrer. War es schwer, den Verlag von dieser Idee zu überzeugen?

Zuerst eine kleine Präzisierung: In 30 Jahren habe ich 25 Mal die Tour de France fotografiert, von 1997 bis 2001 machte ich eine Pause.

Der Dumont-Verlag war von Anfang an von dieser Idee und den Fotografien und deren Erzählung begeistert. Da ich bereits einige Dummies hergestellt hatte, in denen ich mich mit Bildauswahl und einer „spannenden“ Bildsequenz beschäftigt hatte, war es auch einfacher, diese Idee und Geschichte zu präsentieren.

Publikum

La Mongie 2004

Wenn man Dein Buch ansieht, merkt man schnell, wie viel mehr dahintersteckt. Es geht nicht nur um den Witz, sich um 180° zu drehen, sondern das Publikum ist auch immer ein Spiegel der Zeit. Und ohne Publikum gäbe es solche Veranstaltungen natürlich gar nicht.

Das Publikum ist die „Seele“ des Sports und besonders des Radsports – da kann jeder bis auf wenige Zentimeter bei seinem persönlichen Favoriten sein, ja ihn sogar berühren, das ist vor allem im Radsport möglich. Besonders während der Pandemie in den letzten Jahren, als auch die Tour ohne große Zuschauermassen durchgeführt worden ist, hat man gespürt, wie wichtig das Publikum ist, auch umgekehrt.

Ich habe versucht alle Perspektiven zu versammeln: den Blick nach vorne – die Perspektive der Rennfahrer, aber auch nach hinten, nach links oder nach rechts, von oben – die Perspektive der Wartenden.

War Dir die Wichtigkeit dieser Bilder von Anfang an bewusst oder waren sie zunächst nur Beiwerk, das bei den Aufträgen mit angefallen ist?

Das erste Mal bin ich 1987 zur Tour nach Frankreich gefahren. Was mich sofort und bis heute nachhaltig beeindruckte, waren diesen euphorischen Menschenmassen am Rand der Straße! Das war zwar für die Magazine, für die ich damals arbeitete, nicht so interessant – der Radrennfahrer und das Rennen selbst waren im Mittelpunkt – doch ich habe diese Szenen immer schon festgehalten, wenn auch nur für mich. Deshalb gibt es im Buch auch mehrere dieser Bilder aus der frühen Zeit. Besonders wichtig wurden mir diese Bilder zu der Zeit, als durch Dopingaffairen die Glaubwürdigkeit des Sports nicht mehr vorhanden war.

Nonnen sitzen an einer Straße

Draguignan 2013

Ich muss zugeben, dass ich kein Radsportfan bin. Für mich wirkt der Gedanke surreal, stundenlang an einer Straße zu stehen, damit dann innerhalb von Sekunden die Rennfahrer an mir vorbeifahren. Kannst Du mir den Enthusiasmus der Menschen erklären?

Um das zu erklären, muss man wahrscheinlich ins Jahr 1903 zurückgehen. Bis dahin hatte es nur Eintagesrennen gegeben. Der Pariser Journalist Henri Desgrange, Herausgeber der französischen Tageszeitung L’Auto-Vélo, hatten vor genau 120 Jahren die Idee, ein Radrennen zu organisieren, das über mehrere Tage das gesamte französische Terrain umfasst. Damit konnten sie über ein Spektakel berichten und hatten damit einen Vorteil gegenüber anderen konkurrierenden Zeitungen. Nach diesem Prinzip entstand auch der Giro d´Italia.

Zu jener Zeit war Frankreich mehr oder weniger ein Konglomerat diverser Provinzen und politisch entzweit. Die Tour de France hat laut Historiker*innen sicherlich auch dazu beigetragen, so etwas wie eine nationale Identität bei der französischen Bevölkerung zu erzeugen.

Zu dieser historischen Tatsache kam auch, dass Jahr für Jahr ein heroischer Mythos um dieses Rennen und die Teilnehmer erzeugt wird. Für die Menschen am Rand der Straße bedeutet das, zu einem Teil dieses Mythos zu werden. Der Philosoph Roland Barthes beschreibt das sehr genau.

Fährt man durch Frankreich, übernachtet man gern in Chambres d’Hotes, wo man mit allen anderen Gästen zusammen diniert. Ich erinnere mich an ein Abendessen mit einer französischen Familie, als in einem Gespräch über die Tour meine Tischnachbarin erwähnte, dass ihr Großvater schon mit ihr am Rand der Straße wartete, als sie selbst ein Kind war und sie dies nun mit ihren eigenen Kindern auch tut. Ich musste einige Jahre warten, bis ich solch eine Szene mit drei Generationen gut fotografieren konnte.

Jubelnde Menschen am Wegesrand

Jarjayes 2015

Sportliche Fans der Tour de France sind ja meist selbst Radfahrer*innen, die sich über Gebirgspässe quälen – aus der persönlichen Erfahrung dieser „Leiden“ ergibt sich dann ein entsprechend großer Respekt für die Rennfahrer. Beobachtet man Fußballfans, dann sieht man, wie extrem fanatisch oder gewaltbereit Fans sein können. Im Radsport gibt es so etwas wie Aggression oder Gewaltbereitschaft hingegen kaum.

Eine weitere Motivation, sich an den Rand der Straße zu stellen, ist die Werbekarawane, die etwa eine Stunde vor den Rennfahrern vorausfährt. Ein „karnevalesker“ Zug aus etwa 200 surrealen Gefährten mit viel Musik und jungen Menschen, die kleine Geschenke an die Zuschauer verteilen. Das erinnert an die Faschingsumzüge des Rheinlands. Für die meisten Menschen ist es einfach ein Festtag, zu dem man bei schönem Wetter ein Picknick organisiert und auf das Ereignis wartet. Auch, wenn es manchmal nur zehn Sekunden sind, in denen danach das Peloton vorbeirauscht.

In den Nachrichten hört man immer wieder von schweren Unfällen, die durch die Zuschauer*innen verursacht werden. Hast Du so etwas schon miterlebt? Werden die Menschen unvorsichtiger?

Ja, der Respekt der (internationalen) Fans hat mit der extremen Popularität der Tour abgenommen. Aber es ist auch Teil des Spektakels, neben seinem Favoriten herzulaufen – im Großen und Ganzen hat das die Organisation aber im Griff.

Im Buch sieht man geschmückte Straßen, Flaggen auf Gesichtern und Körpern und sogar eine Piñata in Form eines Fahrrads. Was waren die schönsten oder skurrilsten Kunstwerke und Begrüßungen anlässlich des Rennens, die Du bisher gesehen hast?

Besonders schön finde ich, wie Schulklassen in der Bretagne sich schon Monate vorher gemeinsam mit ihren Lehrer*innen intensiv auf das Ereignis der Ortsdurchfahrt im Juli vorbereiten, indem sie Leichtholzplatten in der Form von Trikots aussägen, diese bunt bemalen und über die Straße hängen. Die Fotografie ist aus dem Jahr 2005, aber im Jahr zuvor habe ich bereits ein identisches Foto gemacht, ich hätte ja eh gern beide Bilder hintereinander gezeigt.

Menschen an einer Straße

Mûr-de-Bretagne 2006

Die sind mir auch aufgefallen und sie sehen wirklich toll aus. Warum hast Du die beiden Bilder im Buch nicht zusammengestellt?

Wenn ich mehr Seiten zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte ich es sicher gemacht. Ich musste meine ursprüngliche Auswahl für das Buch aber um 30 % reduzieren.

Das stelle ich mir wahnsinnig schwer vor. Im Buch finden sich jetzt 75 Fotos. Innerhalb von 30 Jahren haben sich sicherlich viele mehr angesammelt. Was war Dir bei der Auswahl wichtig? Wie bist Du dabei vorgegangen?

Ich habe in den letzten Monaten noch einmal mein gesamtes Archiv gesichtet und „entdecke“ immer noch spannende Bilder, vor allem bei den digitalen Fotografien. Analog gibt es viel weniger, mit der Kleinbild- oder Mittelformatkamera (6×7 cm) hat man einfach konzentrierter fotografiert.

Letztendlich habe ich Fotografien ausgewählt, die unterschiedliche Geschichten erzählen, den zeitlichen Bogen der 30 Jahre abdecken und aufgelockert sind durch hochaufgelöste, mit Stitching-Technik produzierte Landschaftspanoramen aus allen Landesteilen Frankreichs. Ich bereite gerade eine Ausstellung vor, in der diese „kleinen“ Bilder aus dem Buch ein Format von 107 x 230/260 cm haben werden.

Ein Fotobuch ist letztendlich ein Produkt aus ganz vielen Parametern: Da sind die Größe, das Buchformat, die Bildsequenz, die Entscheidung für das Coverbild, die grafische Gestaltung, das Papier und die Bindung wichtig. Ich traue es mich kaum zu sagen, aber „Warten Auf Godeau“ ist ein Projekt, an dem ich schon seit sehr sehr vielen Jahren arbeite. Die Idee war immer auch, ein „kleines“ Buch mit „großen“ Bildern zu machen. Es ist letztendlich aber vor allem das Ergebnis meiner jahrelangen visuellen Bildung, inspiriert auch von einem langen Studium der Kunst- und Fotografiegeschichte.

Col du Peyresourde

Col du Peyresourde 2007

Col du Galibier

Col du Galibier 2017

Die Bilder sind im Buch nicht chronologisch angeordnet, was ich eine gute Entscheidung finde. Was mir dennoch aufgefallen ist: Je näher die Bilder an der Gegenwart sind, umso mehr der abgebildeten Menschen haben ebenfalls eine Kamera in der Hand. In den 80er und 90er Jahren sieht man fast keine. In den 2000er Jahren tauchen dann vereinzelt kleine Kompaktkameras auf, die dann in der 2010er Jahren mehr werden. Wie sieht es heute aus?

Ja, der Gebrauch der Kamera beim Publikum, das ist ein interessanter Nebenaspekt – scharf beobachtet! Heute haben fast alle ein Smartphone in der Hand – und Selfies sind gefährlicher, als so manch verrückte Fans.

Auch Deine eigene Kameratechnik hat sich in den 30 Jahren sicher stark verändert. Wie hat sich der Umstieg von analog zu digital für Dich gestaltet?

Meine „persönlichen“ Fotografien der Tour, die in „Warten auf Godeau“ zusammenfasst sind, habe ich nicht zuletzt durch die kommerzielle Arbeit machen können. Die Arbeitsweisen haben sich radikal verändert. In all den 30 Jahren habe ich vier unterschiedliche analoge Kameras und fünf unterschiedliche digitale Kameras verwendet.

Zu analogen Zeiten (bis zum Jahr 2000) war die kommerzielle Arbeit bei der Tour de France etwas gemächlicher: Ab und zu habe ich während der drei Wochen, wenn in der Nähe eine größere Stadt mit einem Fotolabor mit E6-Entwicklung vorhanden war, die belichteten Filme entwickeln lassen. Es gab aber auch Zeiten, in denen ich gemeinsam mit Kollegen das Badezimmer im Hotel in eine temporäre Dunkelkammer verwandelt habe und wir selbst mit einer kleinen Jobo-Rotationsentwicklungsmaschine Diapositivfilme entwickelt haben.

Extrem verändert hat sich die Distribution der Bilder: In den 90er Jahren schickte man die Fotografien per Express-Post; in einem Fall hat ein Österreichisches Wochenmagazin sogar einen Kurier 1.500 km weit von Wien nach Mittel-Frankreich geschickt, um ein Kuvert mit Diapositiven abzuholen – heute unvorstellbar!

Erst um das Jahr 2001 herum waren erste digitale Spiegelreflexkameras mit einer „brauchbaren“ Auflösung verfügbar. Landschaftaufnahmen hätte ich gern immer mit meiner 4×5″-Großformatkamera gemacht, was aber in diesem Kontext sehr umständlich ist. Stattdessen habe ich die digitale Stitching-Technik verwendet, um mit digitalen Kameras trotz deren bescheidener Auflösung zu Fotografien mit einer ultrahohen Auflösung (20.000 Pixel) zu kommen. Diese können auch dementsprechend vergrößert werden, wozu ich die analoge Durst-Lambda-Technik – aber wegen der besseren Haltbarkeit seit geraumer Zeit die Pigmenttinten-Drucktechnik – verwende.

Menschen sitzen vor einer Bäckerei

Südfrankreich 1987

Die nächste Tour de France findet vom 1. bis 24 Juli statt. Wirst Du wieder dabei sein?

Ich habe mal berechnet, dass ich in all den Jahren etwa 160.000 km gefahren bin, um bei der Tour de France zu fotografieren, das sind vier Weltumrundungen. Ich werde zunächst nicht mehr zur Tour de France fahren, 30 Jahre sind genug und „Warten auf Godeau“ ist sozusagen ein abschließender Bericht.

Ein sehr schöner abschließender Bericht. Vielen Dank für das Gespräch!

Informationen zum Buch

„Warten auf Godeau: 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France“
Sprache: Deutsch
Einband: Hardcover
Seiten: 159
Maße: 19 x 24 cm
Verlag: DuMont Buchverlag
Preis: 20 €

Roger Godeau (1920–2000) war ein französischer Radsportler, der als mutmaßliches Vorbild für den Titelhelden von Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ gilt.

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