Arabische Straße – Sehnsuchtsort Sonnenallee
„Salam aleikum“ lautet die arabische Grußformel, die viele Türen öffnet. Auch auf der Sonnenallee helfen ein paar Brocken Arabisch, um Zugang zu finden zu Schischabars, libanesischen Kaffeehäusern und syrischen Konditoreien. Gut ein Jahr lang habe ich das arabische Leben auf der berühmt-berüchtigten Magistrale in Neukölln fotografiert – und dabei einiges über die Fotografie und meine Nachbarschaft gelernt.
1500 Meter „Arabische Straße“, wie sie hier viele nennen – verrufen und fremd für manche, Heimat und Sehnsuchtsort für andere. Seit ich in Berlin wohne, stillt die Sonnenallee mein Fernweh nach allem Arabischen. Sie weckt Erinnerungen an ein Auslandsjahr in der Altstadt von Sanaa, wo ich einst Arabisch lernte und das Leben meiner jemenitischen Nachbarn beobachtete.
Wie schön, dass es frisches Fladenbrot aus dem Tandurofen und dicke Bohnen mit Hummus auch auf der Sonnenallee gibt. Lieder von Fairuz mischen sich hier mit kunstvoll intonierten Versen aus dem Koran, der Duft von Apfeltabak mit den Abgasen von Stadtbussen und hochmotorisierten Luxuskarossen. Was also liegt näher, als der Sonnenallee ein kleines fotografisches Denkmal zu setzen? Eine Hommage an das arabische Leben, an die Menschen, die der Straße zwischen Hermann- und Hertzbergplatz ihr Gesicht geben, die kleinen Details, die einen gedanklich wahlweise nach Syrien, in den Libanon oder den Irak versetzen.
Aus einer Seminararbeit an der Ostkreuzschule für Fotografie wurde eine Ausstellung, aus der Ausstellung ein Buch. „Arabische Straße“ steht – auf Arabisch – auf dem gold-blauen Cover, auf 64 fadengebundenen Seiten finden klassische Portraits samt Textprotokollen, bunte Details und sonnige Straßenansichten ihren Platz.
Es kann nur eine Momentaufnahme sein, das wird mir im Laufe der Monate bewusst: Die Straße verändert sich noch immer rasant. Aus dem Schnellrestaurant mit dem sprechenden Namen „Sonnen City“ ist inzwischen „Mr. Grill“ geworden, die marmorierten rosa Fliesen im immer voll besetzten „Azzam“ wurden während des Lockdowns durch klinisches Weiß ersetzt, die beliebte Schischabar „Umm Kulthum“, in der eines der ersten Fotos meiner Serie entstand, ist seit einem Wasserschaden geschlossen.
Dafür gibt es von der Konditorei Damaskus, deren Verkäufer Amin mir von Nazi-Pöbeleien und treuen biodeutschen Stammkund*innen berichtet, mittlerweile eine zweite Filiale am anderen Ende der Straße. In den vergangenen Jahren habe sich so viel getan auf der Straße, dass er sich dort wie ein Fels in der Brandung fühle, sagt Said, der hier mit seinem Büro seit 20 Jahren für ein libanesisches Waisenkinderprojekt Spenden sammelt. Auch der aus Beirut stammende Bäcker Imad erinnert sich noch daran, wie er anfangs Schrippen und Hörnchen für die Berliner Kundschaft buk – heute sind eher Baklava gefragt.
Vor drei Jahrzehnten waren es vor allem Palästinenser*innen aus dem Libanon, die vor dem Bürgerkrieg flohen und den Nachwende-Leerstand in Neukölln für ihre Geschäfte nutzten. 2015 kamen dann die jungen Syrer*innen dazu und tauften die damals schon boomende Sonnenallee kurzerhand „Arabische Straße“. Wobei das Gendersternchen hier eigentlich nicht passt. Denn es sind natürlich vor allem Männer, die das Straßenbild prägen.
„Traditionen spielen eine große Rolle“, sagt die aus Syrien stammende Rascha, die in der Fahrschule Sonne arbeitet. Manchmal begleiteten die Männer ihre Frauen in die Fahrstunde, weil sie nicht wollten, dass sie allein mit einem männlichen Fahrlehrer im Auto säßen, erzählt Rascha. „Aber das ist zum Glück die Ausnahme.“
In Bäckereien, Brautgeschäften und Büros arbeiten zwar durchaus auch Frauen und viele gehen mit ihren Familien oder Freundinnen auch auf der Sonnenallee essen – aber Rascha war die einzige, die sich spontan auch für ein Portrait bereit erklärt hat. Ganz spontan – so ist übrigens jedes einzelne Portrait aus der Serie entstanden. Meist hatten wir nur wenige Minuten Zeit für ein Bild.
Das lag zum einen daran, dass ich immer mit dem passenden Sonnenlicht arbeiten wollte, und auf die Sonne ist in unseren Breiten ja bekanntlich nicht recht Verlass. Irgendwann wusste ich ziemlich genau, zu welcher Jahres- und Tageszeit auf welcher Straßenseite gutes Licht herrschte – solange sich keine Wolken ins Bild schoben. Außerdem war mir klar, dass ich die Portraitierten aus ihrem (Arbeits-)Alltag riss, und mochte ihnen schon deshalb nicht mehr Zeit stehlen als nötig.
Und bei Weiten nicht alle wollten dabei sein – arabische Grußformel hin oder her. Auf jedes Portrait kamen sicherlich drei oder vier, die abwinkten, keine Zeit hatten oder kein Interesse, für mein Projekt zu posieren. Mehr als einmal war ich kurz davor, hinzuschmeißen – weil das Licht nicht passte, sich mal wieder niemand fotografieren lassen wollte oder weil die Pandemie gerade die ganze Straße leergefegt hatte.
Aber das ist ja das Schöne an der (freien) Fotografie, wie ich finde: Jedes neue Projekt stellt uns wieder vor neue Herausforderungen, von jeder neuen Idee ist es ein weiter Weg, bis am Ende ein (gerahmtes) Bild, eine Serie, ein Büchlein stehen. Ich lerne immer wieder: Es lohnt sich so sehr, die eigene Komfortzone zu verlassen. Einfach mal in eine arabische Schischabar zu spazieren und Leute anzuquatschen.