17. August 2021 Lesezeit: ~5 Minuten

Vom Verschwinden eines Kulturguts

Den Grundstein der Serie legte ein Foto, das ich im Jahr 2010 aufnahm. Ich fand den Automaten in einem hölzernen Bauzaun, der ein größeres, neu zu bebauendes Areal abgrenzte. Als Architekturfotograf interessierte mich in erster Linie, was dort neu entstehen sollte. Dass für einen Kaugummiautomaten ein Loch in einen Bauzaun geschnitten wurde, war neu für mich. So etwas hatte ich bis dahin nicht gesehen.

Irgendwie sprachen mich im Unterbewusstsein die Farben und die Grafik an. Ich machte, weil das Licht passte und ich auch ein wenig Zeit hatte, zwei oder drei Fotos mit unterschiedlichen Ausschnitten. Einige Tage später erwähnte ich spätabends das objet trouvé, den „eingerahmten“ Automaten, im Beisammensein mit befreundeten Kreativen. Irgendjemand wunderte sich, dass es Kaugummiautomaten noch immer gab.

Kaugummiautomat

Jetzt wollte ich es wissen: Mich interessierte, wie viele von den Dingern noch in der kreisfreien Stadt Freiburg hingen. Wir waren uns einig, dass es sich dabei um ein aussterbendes Kulturobjekt handelte. Das Thema schien auch andere zu interessieren. Immerhin konnten alle, denen ich von „meinem“ Automaten im Zaun erzählte, eine Geschichte mit Kaugummiautomaten aus der Kindheit erzählen. Die Sammlung war geboren. Ich fotografierte jeden Automaten, den ich fand. Sprach mit Bekannten und bat diese, immer wenn sie einen sahen, diesen zu knipsen und mir (mit Fundort) das Bild zu schicken.

Sehr langsam, aber beständig wuchs die Sammlung. Nach einiger Zeit fragte ich mich, was ich mit meiner Bestandsaufnahme eigentlich bezweckte bzw. ob man sie irgendwie verwerten konnte. Immerhin war ich nicht die erste Person, die Fotos von Kaugummiautomaten machte. Im Netz finden sich unzählige. Teils sogar deutlich bessere als meine.

Kaugummiautomat

Hauswand

Die erste Wende zeichnete sich ab, als ich mit der Eigentümerin eines Kiosks ins Gespräch kam. Obwohl sie mich und meine Idee, Kaugummiautomaten zu fotografieren, reichlich bekloppt fand, plauderten wir über dies und das. Im Gespräch erwähnte sie, dass „ihr“ Automat die längste Zeit neben dem Kiosk gehangen hätte. Im nächsten Monat sollte er entfernt werden, denn die Betreiberfirma sei nicht bereit, über eine Erhöhung der Pacht zu reden.

Schlagartig hatte ich eine erste Idee für ein Ausstellungsprojekt bzw. wie ich mit den Automatenbildern sinnvoll weiterarbeiten konnte. So etwas schien noch niemand gemacht zu haben. Kein Plagiat und einfallsloses Geknipse. Keine Sammelleidenschaft mit der Kamera ohne tieferen Sinn. Ich wollte meine Bilder zu einem großen Tableau montieren und immer, wenn ein Automat verschwunden war, das entsprechende Foto ausstreichen.

Kaugummiautomat an einem Zaun

Zaun mit Baum dahinter

Inzwischen waren etwa neun Jahre vergangen. In meiner Sammlung fanden sich um die 90 Fotos. Ich fand sogar auf alten Negativen den einen oder anderen Automaten, den ich rein zufällig fotografiert hatte und der gar nicht das eigentliche Motiv gewesen war.

Das „Tableau“ nahm mit der Zeit riesige Formen an. Ich hatte es nie vergessen, aber die Idee schien mir nicht besonders tragfähig. Die ausgestrichenen Automaten wurden mehr und mehr. Immer mal wieder stieg ich aufs Fahrrad und besuchte „meine“ Automaten, um zu schauen, ob es sie noch gab.

Kioskeingang

Kioskeingang

Die zweite Wende kam vor rund anderthalb Jahren. Ob es mit der Pandemie zusammenhängt oder ein bloßer Zufall ist, kann ich nicht sagen. Ich wunderte mich, dass mehr und mehr Automaten verschwanden. Ich machte mich deshalb erneut ans Thema. Der Kunstbetrieb war ja quasi stillgelegt, an eine Ausstellung war daher nicht zu denken.

Ein mir gewogener und wohlwollender Chefredakteur fand meinen Ansatz mit den ausgestrichenen Kaugummiautomaten zwar interessant, aber nicht druckbar. Ihm war zum einen (das kann ich gut nachvollziehen) die Sache grafisch im Zeitschriftendruck nicht vermittelbar und zum anderen zu negativ. Er wollte positiv über Kaugummiautomaten berichten und nahm deshalb eine Sammlung von grafisch starken Einzelbildern intakter Automaten ins Heft.

Das kam gut an, fand viel Zuspruch, entsprach aber in keinster Weise meiner Idee bzw. meiner Zielrichtung. Es geht mir um das Verschwinden eines lieb gewonnenen Kulturgutes und nicht um schöne, bunte Bildchen, wie sie auch andere schon machten.

Kaugummiautomat an einer Mauer

Briefkasten an einer Mauer

Nach zehn Jahren Arbeit wollte ich das Projekt nicht sang- und klanglos in den Tiefen der Festplatte verschwinden lassen. Es musste einfacher, druckbarer gestaltet werden. Ein anderes Konzept musste her.

Dank der Pandemie hatte ich ein wenig freie Zeit. Ich machte mich noch einmal daran, „meine“ Automaten in der Stadt zu besuchen. Die Ausgangsperre hatte sogar etwas Positives: Die Straßen waren leer, so wurde ich viel seltener angesprochen und musste mich praktisch nie für mein eigenartiges Tun und Handeln rechtfertigen. Ein Fotograf, der das Objektiv auf eine leere Wand richtet, scheint verdächtig zu sein.

Kaugummiautomat an einer Hauswand

Treppe mit Hauswand

Einige Orte, an denen einstmals Automaten hingen, gibt es nicht mehr. Die Standorte sind infolge von Neubebauung völlig verschwunden. Schlussendlich fand ich 28 Orte, die sehr gut funktionieren. Das sind also fast 30 von 100 aller meiner fotografierten Kaugummiautomaten in einer Stadt mit knapp 250.000 Einwohnern. Ohne jetzt genau nachgezählt zu haben, verschwanden in zehn Jahren also 40 bis 50 von 100 aller aufgestellten Kaugummiautomaten in Freiburg.

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