20. Mai 2020 Lesezeit: ~9 Minuten

Die Straße: Ein Blick auf die Krise aus der Krise

Die vier Fotografen Siegfried Hansen, Bastian Hertel, Marco Larousse und Martin U Waltz haben sich zusammengetan und stellen in vier Positionen ihre Sichtweisen auf die disruptiven Auswirkungen der Corona-Pandemie dar. Die Arbeiten werden am 28. Mai in einer virtuellen Vernissage zur Ausstellung „Stand der Dinge“ gezeigt.

Ich habe mit dem Fotografen und Inhaber der Galerie, Bastian Hertel, über die Arbeiten und den mutigen Schritt, in dieser unsteten Zeit eine neue Ausstellung zu planen, gesprochen.

Ein Hund an einer leeren Kreuzung

Emptiness is Form © Martin U Waltz

Corona – das Wort kann kaum noch jemand hören, auch wenn uns das Thema noch eine Weile begleiten wird. Eine Ausstellung zum Thema schon jetzt zu zeigen, ist mutig. Wie kam es zu dieser Idee?

Marco rief mich Ende April an und fragte mich, ob ich bei diesem Projekt mitmachen möchte. Ich habe sofort zugesagt und dann ging es auch direkt los, da wir ja nicht viel Zeit hatten. Es ging von Anfang an darum, nicht retrospektiv auf diese Sache zu blicken. Uns ist klar, dass das erst später möglich ist. Die Ausstellung soll nur den Stand der Dinge zu der Zeit abbilden, zu der die Bilder entstanden sind, also Ende März bis Anfang April.

Es ist ein Blick auf die Krise aus der noch andauernden Krise heraus, also fast in Echtzeit. Und Du hast Recht, das Wort Corona ist ein Reizwort, aber als Fotograf*in kann man ja gar nicht anders, als dieses Thema aufzugreifen. Außerdem zeigen wir den Besucher*innen damit vielleicht eine andere Sicht auf das Thema – eine fotografisch-künstlerische.

Collage aus Bildern mit Pfeilen aus Klebeband

Als Hamburg still Stand © Siegfried Hansen

Ich hatte den Eindruck, dass es in der Krise zwei Arten von Kreativen gibt: Die einen, die von der Situation tage- oder gar wochenlang gelähmt sind und in eine Art kreatives Loch fallen. Und die anderen, die die Krise auf eine künstlerische Art verarbeiteten müssen und nun schnell neue Projekte veröffentlichten. Wie hat Dich selbst die Situation getroffen?

Genau den Eindruck, dass es zwei Arten von Kreativen gab, hatte ich auch. In den ersten Wochen war auch ich wie gelähmt und voll beschäftigt mit der Sorge um meine Familie, die zum Teil in den USA lebt, Home Schooling und dem Verarbeiten der Informationen, die im Stundentakt auf mich einprasselten. Ich habe auch staunend und mit Bewunderung beobachtet, wie um mich herum Künstler*innen und Kurator*innen scheinbar wie beflügelt losgelegt und tolle, digitale Projekte gestemmt haben.

Dann kam der Anruf von Marco. Er, Martin und Siegfried hatten zu diesem Zeitpunkt schon reagiert und waren mitten in ihren Serien. Damit war dann auf einmal ein leichter Druck gegeben, so nach dem Motto: Jetzt musst Du etwas liefern. Das hat mich dann beflügelt und mir ein Ventil gegeben, auf diesen krassen Einschnitt in unser aller Leben zu reagieren.

Person im Gegenlicht mit Sonnenkrone

Dealing with it © Bastian Hertel

Person im Gegenlicht mit Sonnenkrone

Deine Serie „Dealing with it“ zeigt Menschen im harten Gegenlicht, die dadurch nur noch als Schatten erkennbar sind. Ihr Kopf wird jedoch von der Sonne umrahmt. Wie kamst Du auf die Idee?

Ich bin an einem Nachmittag losgelaufen und habe alles einfach so treiben lassen: die Gedanken, mein Umfeld, die Stadt. Das war in der letzten Aprilwoche, zu diesem Zeitpunkt war ich noch ständig an den Nachrichten dran und dementsprechend war das Wort „Corona“ omnipräsent. Ich konnte an nichts anderes mehr denken.

Und dann war da noch diese seit Wochen ständig scheinende Sonne. Dieser verrückte Kontrast zwischen dem inneren, eher dunkelgrauen Regenwettergefühl, dem äußeren, warmen und hellen Jahrhundertfrühling und diesem tosenden Wort haben dann nach einigen Spielereien zum ersten Bild mit einer Sonnenkrone um den Kopf geführt. Die nicht sichtbaren, anonymen – maskierten – Gesichter waren dann auch schnell klar.

Auch in Deinen früheren Arbeiten hast Du schon viel mit harten Kontrasten sowie Licht und Schatten gearbeitet. Hat sich durch die aktuelle Situation etwas an Deinem Zugang oder Deinem Umgang mit der Straßenfotografie geändert?

Nein, keine Änderung, es ist eher eine Bestätigung. Für mich geht es in der Streetfotografie nicht darum, abzubilden, was ist, sondern eher darum, es so abzubilden, wie ich möchte, dass es gesehen wird. Ich habe mich immer für die These interessiert, dass Fotografien stets Blicke in die Seelen der Fotografierenden sind. Das leitet mich, führt gern auch zu kreativem Frust, gibt mir am Ende aber ein Gefühl von Befriedigung, wenn etwas dabei herauskommt.

Den eher dokumentarischen, sammlerischen Ansatz habe ich nie so richtig bzw. nur wenig verfolgt. Das können andere viel besser, wie man an den anderen drei Fotografen in der Ausstellung sieht.

Person im Gegenlicht mit Wolken

Dealing with it © Bastian Hertel

Ja, ich habe gesehen, dass Martin U Waltz und Siegried Hansen stark dokumentarische Serien zeigen, in denen sie sich mit der plötzlichen Leere in der Stadt auseinandersetzen. Marco Larousse hingegen hat Symbole und Dinge, die ganz klar auf die Krise hinweisen, in seinen Bildern festgehalten. Wie siehst Du die Arbeiten Deiner Kollegen?

Die drei stehen für mich dafür, dass die Streetfotografie Kunst ist. Ihre Arbeiten sind in hohem Maße durchdacht, kuratiert und folgen alle einer persönlichen Linie sowie einer eigenen Bildsprache. Ich bin jetzt mal frech und sage: Sie zeigen auf, dass die manchmal mangelhafte Qualität in der Streetfotografie oft daran liegt, dass sich viele Fotograf*innen zu schnell mit zu wenig zufrieden geben und einfach nicht tief genug gehen.

Ich weiß das, weil ich selbst in den ersten Jahren genau das getan habe. Im Laufe der Jahre habe ich aber dank vielen Fotograf*innen wie Siegfried, Marco und Martin gelernt, Wissen aufzunehmen, zu beobachten und das Gelernte dann in meine eigene fotografische Welt zu übertragen.

Ich habe in der Zusammenarbeit mit den dreien recht schnell gemerkt, dass sie bereit sind, sich direkter Kritik zu stellen und sich Finger in die Wunden legen zu lassen, um danach noch bessere Fotos zu machen. Für mich ist das der Schlüssel: Immer weitermachen und immer kritisch bleiben.

Leere Straße

Als Hamburg still Stand © Siegfried Hansen

Leere Straße

Die Galerie, in der die Gemeinschaftsausstellung stattfinden wird, wurde von Dir mitbegründet. Wie habt Ihr während des Lockdowns eine komplette Ausstellung planen können? Ihr konntet Euch ja sicherlich nur schwer treffen.

Es gab, dank Corona, nur gemeinsame Zoommeetings, in denen wir die Arbeiten besprochen, kommentiert und Aufgaben verteilt haben. Das meiste kann ja digital erledigt werden. Die Zusammenarbeit war und ist sehr direkt und sehr fruchtbar. Ich habe bisher eine Menge gelernt. Allerdings hätte ich die Bildbesprechungen lieber vor Ort gemeinsam mit echten Drucken gemacht. Fotografien sollte man eigentlich immer auf Papier betrachten.

Was bedeutet der Lockdown für Euch wirtschaftlich?

Die Schließung war natürlich erst einmal wie alles in dieser Zeit unvermeidlich und doch irgendwie unwirklich. Unsere Galerie ist ein Herzensprojekt, von zwei Fotografen aus künstlerischen Motiven heraus gegründet. Sie ist nicht primär auf Profit ausgerichtet, da sie sich nicht ausschließlich aus Verkäufen finanziert. Wir können uns erlauben, Experimente in den Herangehensweisen zu machen.

Ich sage gern „wir können auch mal nein sagen“. Das erlaubt uns, unabhängig zu sein und führt dann zum Beispiel zu diesem schönen Projekt, bei dem ganz klar die Kunst im Vordergrund steht. Dieses Projekt ist trotz Sponsoring noch nicht rentabel und funktioniert nur, weil alle vier Fotografen mit anpacken, in Vorleistung gehen und jeder sein Netzwerk aktiviert, um alles rechtzeitig und hochwertig fertigzustellen. Kurzum: Die Galerie als Institution ist wirtschaftlich von der Krise nicht direkt betroffen.

Verbotsschild und Kind

Stillstand – Abstand – Neuanfang © Marco Larousse; ebenso das Titelbild

Ich finde es, auch wenn Ihr keinen wirtschaftlichen Verlust habt, sehr mutig, gerade jetzt eine neue Ausstellung auf die Beine zu stellen. Wer weiß, ob nicht eine neue Welle zu erneuten Schließungen führt? Gibt es spezielle Sicherheitsvorkehrungen für die Gäste der Ausstellung?

Wir verzichten schweren Herzens auf eine Vernissage vor Ort und dürften auch gar keine abhalten. Wir weichen daher auf einen Livestream aus. Danach kann man vier Wochen lang zu uns kommen und die Bilder vor Ort anschauen. Wir lassen immer nur maximal zwei Personen rein und in der Galerie gilt die Maskenpflicht. Glücklicherweise muss man beim Betrachten von Fotografien ja nichts anfassen, also ist das eine sehr hygienische Sache. Wir haben übrigens die Idee, die Vernissage nachzuholen – nach der Krise, wann auch immer das auch sein mag. Vielleicht mit noch mehr Bildern und dann einer Retrospektive.

Dann wünsche ich Euch ganz viel Erfolg mit der Ausstellung, der virtuellen Vernissage und drücke die Daumen, dass „echte“ Vernissagen bald wieder möglich sein werden!

 

Information zur Ausstellung

Stand der Dinge
virtuelle Vernissage: 28. Mai 2020 um 19 Uhr auf Youtube und Facebook
Zeit: 28. Mai – 25. Juni 2020
Ort: erstereihe.hamburg, Lange Reihe 76, 20099 Hamburg

Ähnliche Artikel