Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon.
In meiner Kindheit fuhr ich jeden Tag in der Früh mit dem Fahrrad die Hauptstraße entlang, von unserem Haus zur Schule – und nachmittags wieder zurück. Wenn wir Kinder nach dem Unterricht noch durch die Gegend streiften, sogar öfter. So kam ich täglich mindestens zwei Mal an dem Haus vorbei, das sich etwa in der Mitte des Weges an einer leichten Biegung der Straße befand und gegenüber einer weiteren Straße stand, die an dieser Stelle abzweigte.
Es war klein und weiß, zur Straße zeigten zwei oder drei Fenster. Eine Tür war nicht zu sehen. Es wirkte von seiner Art her nicht wie ein Wohnhaus, sondern war wohl eher ein Nebengebäude eines der angrenzenden Häuser und wurde – wenn überhaupt für irgendetwas – als Lager genutzt. Es sah schon immer heruntergekommen aus, soweit ich mich zurückerinnern kann. Auf der kleinen Fläche vor ihm bis zum Gehweg spross wild Unkraut.
Irgendjemand hatte – wann, weiß ich nicht, vielleicht sogar schon vor meiner Zeit – in großen, sehr ungelenken Buchstaben mit Hilfe von schwarzer Sprühfarbe „Madonna“ an die Fassade dieses kleinen Hauses gesprüht. Genauer gesagt, stand dort eher „MA DON NA“, denn die Buchstaben waren so groß wie die Fenster, zwischen die sie gruppenweise gequetscht worden waren. Da war also jemand ein großer Fan und musste seine Leidenschaft auf diese Weise verewigen.
Noch während ich in diesem Ort wohnte, aber nicht mehr täglich zur Grundschule radelte, sondern stattdessen täglich mit der Bahn zum einige Orte weiter gelegenen Gymnasium fuhr, wurde das Haus abgerissen. An seine Stelle rückte ein neues, modernes Wohnhaus. So erging es natürlich vielen älteren Gebäuden im Ort, die über die Jahre weichen mussten. Aber das Fehlen dieses einen, seltsamen Hauses mit seiner hässlichen Liebeserklärung hinterließ ein Loch in meiner Erinnerung.
Heute ärgere ich mich darüber, dass ich in meiner Grundschulzeit, als ich irgendwann meine erste eigene automatische Kleinbildkamera geschenkt bekam, dieses Haus nicht fotografiert habe. Stattdessen machte ich in unseren Urlauben massenweise Aufnahmen von unseren Ausflügen.
Wahrscheinlich dachte ich damals, dass ich das Besondere festhalten müsste, um mich daran zu erinnern. Heute reizt mich nichts, diese Bilder hervorzuholen und noch einmal anzusehen. Vielleicht war es diese Art von Fotografie, die mir vorgelebt wurde und die ich im Fernsehen sah. Wobei: Mein Vater filmte einige Jahre lang leidenschaftlich mit einer kleinen Kamera in unserem Alltag.
Als Kind fand ich das natürlich nur nervig und verstand die Bedeutung dessen noch nicht, denn um mich herum schien für eine sehr lange Zeit alles immer gleich zu bleiben. Und wenn sich etwas veränderte, war das Neue, das an die Stelle des Alten trat, so aufregend, dass ich gar nicht dazu kam, das Vergangene schon zu vermissen.
Diese Sehnsucht nach Vergangenem, dem Festhalten von langsam verblassenden Erinnerungen, nach nicht mehr zugänglichen oder nicht mehr vorhandenen Orten stellte sich erst viel später ein. Heute kann ich als topophile Nostalgikerin viele Stunden damit verbringen, wehmütig durch die Erinnerung an die Gärten, Wälder und Felder meiner Kindheit zu streifen. Ich versuche, mich an so viel wie möglich immer wieder zu erinnern.
Es ist natürlich müßig, sich über mein kindliches Ich zu ärgern, das vor einem Vierteljahrhundert noch gar keinen Gedanken an die (künstlerische) Fotografie verschwendet hat. Stattdessen frage ich mich hier und jetzt: Was kann ich daraus lernen, dass ich heute gern ein Bild von diesem Haus hätte?
Ich könnte in den Archiven meines Heimatortes kramen und mit den Menschen sprechen, die dafür schon viel Material zusammengetragen haben. Vielleicht hat das Haus jemand anderes fotografiert. Und wahrscheinlich finde ich dort auch noch viele andere spannende Bilder und Geschichten zu den Orten, denen ich mich verbunden fühle, weil ich dort aufgewachsen bin.
Warum hätte ich überhaupt so gern ein Foto von diesem Haus? Als ich mich angeschickt habe, es hier zu beschreiben, hatte ich ein recht genaues Bild davon im Kopf und schien mich an viele Details zu erinnern. Wahrscheinlich stimmt nicht alles davon, aber ist das wichtig? Um die Erinnerung aus meinem Kopf dauerhaft in ein Bild zu bannen, könnte ich sie ebenso gut zeichnen oder malen.
Ich frage mich, ob es mir in ein, zwei oder drei Jahrzehnten wieder so ergehen wird. Werde ich im Alter verärgert über mein heutiges Ich sein, weil es sein alltägliches Umfeld nicht festgehalten hat? Möglicherweise nicht, da die Kindheit und Jugend erwiesenermaßen die prägendste Zeit im Leben jedes Menschen ist.
Aber wer weiß? Im schlimmsten Fall hätte ich einige Fotos für die Tonne gemacht – aber das mache ich doch sowieso immer wieder, weil nur wenige Bilder das Urteil der Zeit überdauern. Ich werde also gleich die Kamera nehmen und einfach mal fotografieren: Wie unser Haus gerade aussieht und wie sich der Garten zeigt.
In den nächsten Wochen werde ich früher als ich müsste meinen Weg zum Bus antreten, um unterwegs darauf zu achten, an welchen Häusern oder auch Details mein Blick immer wieder hängen bleibt. Und ich werde endlich Fotos von ihnen machen. Die ich immer wieder ansehen kann. Wenn ich möchte.