13. August 2019

DESTRUKTION

Im Wahlkampfsommer 2017 standen alle Laternenmasten in Neubrandenburg – wie in jeder anderen Stadt Deutschlands – im Dienste der Politik. Während meiner Fahrten durch die Stadt fiel mir der materielle wie moralische Verschleiß der Wahlplakate auf. Zum Herbst hin verblassten die Kandidaten aufs Jämmerlichste und ihr politischer Gestus mutierte zu einer Grimasse.

So kam ich auf die Idee, mit den Mitteln der Fotografie den Verschleißprozess meiner visuellen Erfahrung zu simulieren. Ich fing an, die Plakate der Spitzenkandidaten zu fotografieren, die abfotografierten Plakate auszudrucken und den Ausdruck erneut zu fotografieren. Das Prozedere wiederholte ich solange, bis das Bild sich zerlegte.

Portrait von Angela Merkel in verschiedener Qualität

Während ich die Bilder Schritt für Schritt zerstörte, sah ich eine neue bildliche Realität entstehen, die sich immer weiter vom ursprünglichen Motiv distanzierte und an Selbstständigkeit gewann. Und das so sehr, dass ich nur bedingt die Kontrolle über den Schöpfungsprozess behalten konnte und immer wieder von Wendungen mit unbekannten Folgen überrascht wurde.

Die Begeisterung für die entstandenen Gebilde war groß. Bald vergaß ich die Politköpfe und die sozialkritische Botschaft, die ich anfangs zum Ausdruck bringen wollte, und begann, nach der „destruktiven Methode“ Bilder aus beliebigen Bildern zu „entwickeln“. Ich fotografierte alltägliche Gegenstände und startete ungeduldig und ohne eine Idee zu haben, was daraus wird, die
Destruktionskette. Mehr oder weniger passiv sah ich, wie die Bilder ihre ursprüngliche Farbigkeit verloren und eine neue gewannen, wie die gegenständlichen Konturen sich auflösten und ungeahnte Formen auftauchten, wie die Details verschwanden, um Platz für plakative Abstraktionen zu machen.

Banane

Meine Fotografie hatte plötzlich eine zeitliche Dimension gewonnen. Denn der Entstehungsprozess eines Bildes konnte sich über einen ganzen Tag hinziehen, eine ganze Woche in Anspruch nehmen, wenn nicht einen Monat. Natürlich arbeitete ich an mehreren Bildern gleichzeitig, an manchen Tagen machte ich nur einen Schritt vorwärts und nicht selten vernichtete ich eine ganze Reihe von Reproduktionen und fing von vorn oder in der Mitte des Prozesses wieder an.

Ich war glücklich, endlich ein Handwerker zu sein. Nun entstanden meine Bilder nicht primär durch die Verschlusszeit einer Kamera, sondern als Ergebnis eines langen Reproduktionsprozesses. Noch nie war ich der ersehnten Grenze, an der Fotografie aufhört und Malerei beginnt, so nah. Und kurioserweise war ich noch nie so sehr Fotograf wie in den Zeiten, als ich mich unter den Malern am wohlsten fühlte.

Surreales BildSurreales Bild
surreales Bild eines StuhlsSurreales Bild
Surreales BildSurreales Bild

Die Bilder dieser Serie machen mich immer noch glücklich. Sie zählen zu meinen ehrlichsten.

12 Kommentare

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  1. Interessanter Ansatz, danke fürs Zeigen !

    Auch wenn mich nicht alle Bilder ansprechen, finde ich den letzten Satz echt gut: Hier hat sich jemand wirklich gefunden. Gratuliere !

    • …also, gerade habe ich eine sehr schöne Erfahrung machen dürfen. Erst haben mir die Fotos gar nichts gesagt und ich habe sie gleich wieder weggeklickt. Trotzdem war meine Neugier geweckt. Als ich später am Tag wieder darauf zurückkam, fand ich die Idee und die Ausführung immer besser und stimmiger. Ein sehr interessanter und befreiender Erkenntnisprozess. Zum Schluss war ich noch auf der Website von Gilberto Pérez Villacampa und habe mich dort beim Anschauen der Fotos sehr wohlgefühlt. Vielen Dank für den Artikel.

      • Danke Georg für die interessante Anmerkung. Dieses Gefühl der Befreiung hatte ich damals, als die Serie entstand. Ich fühlte mich endlich von kleinkarierten, selbsterlegten Qualitätsansprüchen frei. Vor der Serie war keine Kamera für mich gut genug, nach der Serie genügte mir fast jede Kamera. Die Serie hat mich nachhaltig verändert.

    • Danke Werner Meier, ich habe mich tatsächlich gefunden gehabt, doch mich wieder verloren. Als ich einige Monate danach die Serie fortsetzen wollte, sind die Ergebnisse nicht mehr vergleichbar gewesen. Momentan sehe ich die Serie als abgeschlossen, aber das kann sich bei mir ändern.

  2. Man merkt immer sofort, Gilberto, dass du Designer bist. Deine Bilder sind immer im positiven Sinne reduziert um Unnötiges, aber trotzdem komplex genug, um nicht zu langweilen.

    Saludos!

    Jürgen Warschun

    • Hallo Jürgen, schön von dir zu lesen! Und ja, dieser Hang zur kompromisslosen Reduzierung ist meine Stärke und auch meine Schwäche. Wenn ich Bilder wie deine sehe, begreife ich, dass ich kein Fotograf bin. Bitte nicht als falsche Bescheidenheit oder als Höflichkeit verstehen. Ich übe gerade Selbstkritik zur Selbstfindung. Lieber Gruß Gilberto

  3. ich habe mich in diesem beitrag betreffend DEKONSTRUKTION mit einem gewissen lächeln (auch) wiedergefunden.
    ich bin von meiner ausbildung her typographiker, also im analogen buchdruck und in der dunkelkammer sozialisiert worden (lehrzeit 1963-1967). seit dem aufkommen von computer und digitaltechnik entwickle ich meine bildsprache in richtung scharzweiß-minimalismus.
    farbe als photographisches gestaltungselement ist mir in zunehmendem maß fremd geworden.
    in selbem maß gehts retro in die anfänge der digitalzeit zu kameras aus den 2000er jahren und altglasoptiken, die noch für das kleinbildformat gerechnet worden waren.
    nachdem alles manuell zu bedienen ist, wird wieder denk- und handwerk verlangt.
    das fordert mich im 73.lebensjahr auf angenehme und erfrischende weise.
    kwerfeldein wünsche ich auch weiter mut/zivilcourage für minimalismus und schwarzweiß.
    mit lieben grüßen aus der hochsteiermark,
    wernert