Ein verlassenes Hotel im Herzen von Texas
Wer auf der legendären Route 66 durch die Weiten Amerikas unterwegs ist, den verschlägt es unweigerlich auch nach Amarillo. Und wer eine Vorliebe für deftige Steaks hat, ist hier gut aufgehoben, denn nicht weniger als ein Viertel des amerikanischen Bedarfs wird in dieser Stadt im texanischen „Panhandle“ und in ihrer Umgebung erzeugt. Und die Route 66 führt mitten hindurch.
Wir hatten bei einer unserer Fotoreisen entlang der „Main Street of America“, wie die 66 in den USA gern genannt wird, die Gelegenheit, einen sehr besonderen Ort in Amarillo zu erleben. Achtung, liebe Freund*innen der Lost-Places-Fotografie, jetzt wird’s interessant. Man muss schon eingefleischte*r Spurensucher*in sein, um unser Zielobjekt im Rahmen einer Route-66-Tour zu finden bzw. es mit der „Mother Road“ in Verbindung zu bringen.
Und doch, das Objekt liegt an einem ehemaligen Stück der 66 mitten in Amarillo. Beziehungsweise irgendwie dazwischen. Amarillos Stadtvätern der 1930er Jahre gefiel es, die Streckenführung der 66 durch die Innenstadt mehrmals zu ändern. Schließlich endet das Ganze in zwei Einbahnstraßen, die das Herring Hotel – denn das ist unser Zielobjekt – rechts und links passieren. „Sandwichen“ würden die Amerikaner sagen. Zu übersehen ist das riesige Gebäude an der SW3rd und Pierce Street allerdings nicht. 13 Stockwerke hoch dominiert das Bauwerk seine Umgebung.
Erbaut wurde es in den 1920er Jahren von Namensgeber Cornelius Taylor Herring, seines Zeichens Viehzüchter, Ölbaron und Banker in einem und somit ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln, um dieses zu seiner Zeit größte Gebäude der Stadt hochziehen zu lassen. Bis in die 1960er Jahre war es in Betrieb und hat turbulente Zeiten hinter sich. Dann schlägt der amerikanische Exodus der Vorstädte auch in Amarillo zu.
Die kleinen Geschäfte der Innenstadt mussten sich der Konkurrenz der Shopping Malls auf der grünen Wiese hauptsächlich im Südwesten der Stadt ergeben. Zu allem Überfluss wurde die Route 66 durch die Interstate 40 – also die Autobahn – ersetzt. Amarillos Downtown starb einen langsamen und qualvollen Tod. Auch das Herring war betroffen. Für eine Weile dienten einige Stockwerke der Regierung und allerlei Agenturen als Büroräume, doch das rettete das Hotel nicht vor dem endgültigen Aus in den 1970er Jahren.
Seit etwa vier Dekaden steht das Gebäude verlassen in seinem Dornröschenschlaf. Alle Türen verschlossen, die hinteren Zufahrten durch Zäune gesichert. Wir wären nie auf die Idee gekommen, uns mit dem Herring sehr viel näher zu beschäftigen. Ein paar Fotos von außen vielleicht, die imposante Fassade ist schließlich ein tolles Motiv, inklusive einiger Blessuren.
Und dann kommt alles doch ganz anders: Unser amerikanischer Freund Nick Gerlich, der mit Ellen zusammen an einem Buchprojekt über die Route 66 arbeitet – bzw. gearbeitet hat, denn das Buch ist fertig und wird im Herbst 2019 auf dem amerikanischen Markt erscheinen – kennt da jemanden. Mel ist so etwas wie eine Verwalterin des Herring Hotels. Der passende amerikanische Begriff dafür ist „caretaker“.
Mel also kümmert sich um das alte Gebäude unter anderem in Form von gelegentlichen Touren durchs Haus für interessierte Besucher*innen. Kostenlos. Eine solche Gelegenheit wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen.
Wenn man die große Lobby betritt, fällt einem sofort der Brunnen mit den Löwenköpfen ins Auge. Italienischer Marmor sorgt für recht gute Beschaffenheit, auch wenn sein Geplätscher längst versiegt ist. Oben drüber ein passender Kronleuchter, der auch jetzt noch die Halle mit Licht erfüllt. Strom haben sie also noch. Aber nicht überall. Die darüber liegende Galerie bekommt noch Licht ab.
Von hier kann man die Lobby sehr schön überblicken. Bevor wir uns in Richtung der oberen Räume bewegen, noch ein paar Abstecher in die umliegenden Räumlichkeiten. Die ehemaligen Küchenräume sind noch beleuchtet. Der Putz blättert von Wänden und Decken, überall liegt irgendwas herum. Plastikbehälter, Papiertüten, ein paar verrottende Tische und Stühle, ein Einkaufswagen, ein Kleiderbügel.
Dann geht’s nach oben. Im Treppenhaus ist es stockfinster. Eine oder mehrere Taschenlampen sind empfehlenswert. Auch um die Objekte in den dunklen Räumen anzuleuchten. Auf einem Treppenabsatz brennt eine kleine Stehlampe. Trotzdem: watch your step.
Man kann hinaufgehen, bis ganz nach oben, wenn man das möchte. Mel hat nichts dagegen. Aber bitte aufpassen, auch hier liegt alles Mögliche herum und wenn kein Fenster in der Nähe ist, sieht man fast nichts. In den ehemaligen Hotelzimmern und auf den Fluren ist es besser.
Fahles Licht fällt durch die verschmutzten Fenster auf Pfützen, Bauschutt, Heizkörper, elektrische Installationen. Draußen haben die Tauben längst übernommen. In einem Raum ein Sessel im Fünfziger-Jahre-Stil und am Fenster ein zerschlissener Vorhang mit Bohrturmmuster. Bezeichnend. Das schwarze Gold hat viele hier reich gemacht.
Alle Räume abzuklappern, dazu fehlt uns die Zeit. Zum Schluss geht’s noch nach unten in den Keller. Dort war der Tascosa Club untergebracht, eine Bar, in der sich die Ölbarone und Viehzüchter bei Whisky und Bier die Zeit vertrieben. Angeblich auch in Zeiten der Prohibition, denn diese Periode bekommt das Herring zu seinen Gründerzeiten voll mit.
Die Fresken des texanischen Künstlers H. D. Bugaboo, die das Leben im texanischen „Panhandle“ – der einem Pfannenstiel ähnelnde, nördliche Teil von Texas – zeigen, sind heute noch teilweise erkennbar. Die mit den angehobbelten Pferden besonders gut.
Man braucht Fantasie, um sich in die alten Zeiten hier und die entsprechende Atmosphäre zurückzuversetzen. Aber mit etwas Innehalten tauchen vor dem geistigen Auge die Cowboyhüte, Sporenstiefel und Coltgürtel jener Zeiten auf. Oder die Band auf der Bühne des Ballsaales im zweiten Stock. Man kann die Roaring Twenties spüren, wenn man sich durchs Haus bewegt.
Mel sitzt unten in ihrem kleinen Büro und wartet geduldig auf uns. Ob der Tischfernseher aus den 60er Jahren noch funktioniert?
Es gibt Ideen, das Haus zu renovieren und wiederzubeleben. Aber wer wird geschätzte 50 Millionen Dollar in ein solches Projekt investieren? Bis jemand gefunden ist, wird das Herring weiter als Relikt aus der Vergangenheit an bessere Zeiten in Amarillo erinnern.
Amarillo soll ca. 200.000 Einwohner haben, aber auf euren Fotos sieht es aus wie eine Geisterstadt. Dadurch, dass die Fotos desaturiert sind, sieht es aus, als seien es alte Fotos und als sei somit Amarillo schon lange eine Geisterstadt. Was ist der Sinn oder das Ziel einer solchen Reportage? Radikale Subjektivität?
Amarillo ist alles andere als eine Geisterstadt. Richtig. Die Bilder stammen aus einem „lost place“, der nun mal mitten im (übrigens wenig brummendem) Zentrum dieser Stadt liegt, die wir sehr gut kennen. Was relativ leicht schon an der Titelzeile zu erkennen ist. Deshalb kann ich diesen „link“ zwischen der 200.000 Einwohner-Stadt und dem verlassenen Hotel, um das es hier ausschließlich geht, nicht nachvollziehen. Das eine hat mit dem anderen nun mal gar nichts zu tun. Die einleitenden Sätze über Amarillo dienen lediglich dem Zweck, ein paar Hintergrundinformationen über den Ort zu liefern, wo unser Objekt zu finden ist. Erklärt sich eigentlich von allein. Die Fotos sind ganz sicher nicht auf „alt“ gemacht, sondern ganz normale s/w Bilder (des Hotels und nicht der Stadt!) Und die Frage nach dem Sinn? Nach dieser Logik wäre jede Reportage (ob Wort oder Bild) über solche Orte sinnlos. Es gibt tausende davon. Okay, ist alles Ansichtssache. Jeder mag das sehen, wie er/sie das möchte. Aber trotzdem danke für’s kommentieren. Im übrigen mögen wir Kommentare, die weniger anonym sind. Eine gute Zeit noch.
„Und die Frage nach dem Sinn? Nach dieser Logik wäre jede Reportage (ob Wort oder Bild) über solche Orte sinnlos.“
Die Frage nach Sinn und Zweck einer Reportage macht die ganze Reportage sinnlos? Wieso das?
Mir gefällt die Reportage gut. Der Text ist interessant und informativ; die Fotos sind von ausgezeichneter technischer. Qualität. Was ich erstaunlich finde ist, dass das Gebäude nicht von Sprayern „verschönert“ wurde. Bei uns wäre doch zumindest der Eingangsbereich mit zahlreichen Graffiti „verziert“.
Das freut uns. Tatsächlich ist keine Graffiti am Gebäude. Das könnte damit zu tun haben, dass die Polizeiwache direkt um die Ecke ist. Da traut sich keiner .. ;-)
Für mich ist das eine sehr interessante Fotoreportage mit einer guten Hintergrundinformation dazu. Sie handelt vom Zerfall und oft stehen die betreffenden Objekte gar nicht so lange, um diese Erscheinungen zu zeigen.
Stimmt, bei uns wäre das Gebäude wahrscheinlich längst abgerissen worden. In Amerika ist das sehr oft ganz anders. Da stehen solche „lost places“ jahre – oder sogar jahrzehntelang. Zur Freude der Fotografen … ;-)