2 x 44 Jahre = 2 Frauenleben
Lebensgeschichten interessieren mich, so lange ich mich erinnern kann. Und ich liebe auch Fotoalben. Immer wieder habe ich als Kind die meiner Eltern durchblättert. Wenn ich bei anderen zu Besuch bin, freue ich mich, wenn die Fotoalben ausgepackt werden und ich die Lebensgeschichten in Bildern präsentiert bekomme.
Die Lebensgeschichte meiner Mutter unterscheidet sich sehr von meiner. Wir sind nicht repräsentativ, aber ich denke, tendenziell sind diese Unterschiede nicht untypisch für unsere jeweiligen Generationen. Wir haben für unser Fotoprojekt „2 x 44 Jahre = 2 Frauenleben“ aus jedem Lebensjahr ein Foto ausgewählt und einen kleinen Begleittext dazu geschrieben.
Dieser sollte entweder unsere jeweiligen damaligen Gedanken besser herausstellen oder uns etwas in den geschichtlichen Kontext einsortieren, da dieser definitiv Auswirkungen auf unsere Lebensweisen und Gedanken hatte. Dabei lassen wir den Betrachter*innen genügend Spielraum für eigene Gedanken und Assoziationen.
Als ich geboren wurde …
Erna: … war es 1940 und ich wurde zu Hause geboren und meine Mama hat am Tag vorher noch die Fußböden geschrubbt.
Nana: … war es 1963 und drei Tage vor der Ermordung von J. F. Kennedy. Meine Mama hat mich in der Klinik geboren und mein Papa ging zur Ingenieursschule und als er in der ersten Pause in der Klinik anrief, war ich schon da.
Als ich 4 war …
Erna: … habe ich viel mit meinem Bruder Ernst und seinen Freund*innen gespielt. Obwohl er seine kleine Schwester nicht immer dabei haben wollte. Ich bin aber einfach immer hinterher gelaufen.
Nana: … habe ich einen kleinen Bruder bekommen und wir sind in ein von Papa gebautes Haus nach Henstedt-Rhen, 10 km nördlich der Stadtgrenze von Hamburg, gezogen. Dort gab es zwei Nachbarsjungen, die meine Freunde wurden. Das hier ist der eine.
Als ich 9 war …
Erna: … hat meine Mutter mir oft Kleidung genäht, aber die war immer irgendwie schief. Mit Schleifen im Haar fand ich mich dann schöner.
Nana: … habe ich zu Weihnachten ein Pappskelett und eine Gitarre bekommen. Für das Gitarrespielen hatte ich kein Talent und von dem Skelett habe ich die Knochen gerne durch Pergamentpapier gepaust.
Als ich 12 war …
Erna: … hat unser Nachbar gesagt, dass ich mit meinen langen Beinen ein Mannequin werden könnte. Ich habe immer gedacht: „Wieso heißt das Manneking? Es müsste doch Mannequeen heißen, weil ich doch ein Mädchen bin.“
Nana: … und auch die Jahre davor sind wir in den Sommerferien immer weit weggefahren zum Zelten in Griechenland und Türkei und Italien und so. Wenn die Schule aus war, mussten wir immer ganz schnell nach Hause, umziehen und rein ins vollgepackte Auto, damit wir nicht die letzten beim vollgestopften Autoput sein würden. Ich mochte gerne in diesen Ländern und so viel draußen sein.
Als ich 15 war …
Erna: … ging ich auf eine reine Mädchenschule. Wir hatten dann Tanzstunde mit einer Klasse aus der Jungenschule. Das war sehr aufregend. Mein Abtanzballkleid war aus rosa Taft und verziert mit Spitze aus Plastik.
Nana: … ging ich zur Tanzschule. Das war immer ein bisschen kompliziert, weil ich nicht so groß war und trotz hoher Absätze einigen Herrn beim Tanzen gegen den Bauch geguckt habe. Einen haben wir Pickelface genannt, der war aber eigentlich ganz nett. Und einer wurde Burschi genannt, der hatte rote Haare und war ein bisschen komisch. Der ist später aus einem Zug herausgefallen und gestorben.
Als ich 17 war …
Erna: … habe ich eine Fotografielehre angefangen und wurde von meinem Chef das erste Mal in einem Atelier fotografiert.
Nana: … ging ich wie jedes Jahr in das Fotostudio von einer Fotografin, die mit meiner Mutter befreundet war. Ich durfte auch beim Entwickeln zugucken und selber um die fotografierte Person herum abwedeln. Das fand ich ganz toll.
Als ich 22 war …
Erna: … haben wir geheiratet. Wir hatten damals einen 2 CV und als wir zur Hochzeitsreise aufbrachen, hat der Wagen so merkwürdige Geräusche gemacht. Wir waren sehr erschrocken, dass der Wagen gerade jetzt kaputt geht. Aber mein Schwager hatte nur viele Konservendosen hinten dran gebunden.
Nana: … hatte ich wegen der miesen Lehrlingsbezahlung (450,- DM im 2. Lehrjahr) kein Geld, aber bin meinen Eltern doch so auf den Keks gegangen, dass sie mir die Miete für eine Wohnung in Hamburg gegeben haben. Da habe ich zuerst alleine gewohnt und fand das voll aufregend.
Als ich 25 war …
Erna: … hatten wir uns den größeren Citroen ID19 gekauft und damit sind mein Mann und ich über Istanbul und Damaskus bis nach Beirut gefahren. Das war kurz vor dem 1. Nahost-Krieg und wir haben noch das alte Beirut gesehen, bevor es ziemlich zerstört wurde. Nana wurde inzwischen von den beiden Omas betreut.
Nana: … war ich Färbemodell bei Schwarzkopf und die haben sich immer toll gefreut, dass da jemand war, wo so ein knalliges Rot haben wollte. Ich musste immer in Abständen hin, wo sie die Abtragung nach den Haarwäschen studiert haben. Ich fand das ziemlich lustig.
Als ich 27 war …
Erna: … war unser Haus soweit fertig, dass wir eingezogen sind. Und unser Sohn kam auf die Welt. Wir waren also sehr produktiv.
Nana: … hatte ich mich inzwischen sehr an Frauen gewöhnt und ging auf die Hamburger Frauentage (wo ich einen Fotokurs belegte, wo das obige Bild entstand) und belegte frauenorientierte Seminare und lernte viele tolle Frauen kennen.
Als ich 28 war …
Erna: … wurde viel über Emanzipation diskutiert. Ich fand mich total emanzipiert, denn ich habe mir das Leben mit meiner Familie selber so gewünscht und konnte mir meine Zeit und Arbeit so einteilen, wie ich es wollte.
Nana: … überlegte ich, was alle Studierten hinterher von ihrem Studium erzählten und da kamen bei vielen lange Reisen drin vor und das wollte ich dann auch haben und bin für acht Monate nach Australien und Indonesien gereist. Vorher dachte ich, dass ich mich viel verändern und weniger Ängste haben würde. Aber hinterher war ich doch noch die Gleiche.
Als ich 30 war …
Erna: … habe ich den Führerschein gemacht und wir haben einen alten VW Käfer als Zweitwagen angeschafft. Die erste Fahrt alleine mit den Kindern nach Dänemark war für mich ziemlich aufregend.
Nana: … ist mein Bruder nach Berlin gezogen und ich habe ihn manchmal besucht. Besonders gerne sind wir im Osten herumgelaufen und haben gestaunt, wie anders es dort war. Trotz Maueröffnung fünf Jahre zuvor hatte ich mich eher wenig mit der Ex-DDR beschäftigt.
Als ich 38 war …
Erna: … waren wir mit unserem Sohn alleine in Schweden. Nicola war auf Sprachreise in England und Nana auf einer Jugendreise.
Nana: … habe ich mir vorgenommen, einen Marathon zu laufen, obwohl mir das Laufen gar nicht so einen Riesenspaß macht. Aber ich wollte herausfinden, ob es mit einem relativ disziplinierten Training funktioniert und dann hat es tatsächlich geklappt. Der Marathon hieß Hans-a-plast-Marathon und ich hatte schon nach 12 km eine Blase und es gab kein ordentliches Blasenpflaster in den Erste-Hilfe-Zelten. Das hat mich ziemlich geärgert. In Ohlsdorf nach 30 km wusste ich, dass ich auf jeden Fall unbedingt bis zum Ziel stolpern würde, der Gedanke, dass ich ja nochmal trainieren müsste, wenn ich es jetzt nicht schaffen würde, hat mich durchhalten lassen. Und das wirklich tolle Publikum.
Als ich 42 war …
Erna: … waren wir wieder mit unserem Sohn alleine unterwegs – diesmal in Frankreich. Unterwegs ist die Lichtmaschine vom Auto abgebrochen. Wir haben dann oben auf einem Abschleppwagen in unserem Auto gesessen und hatten eine gute Aussicht. Die Reparatur haben die Franzosen gleich gemacht und wir konnten noch am selben Tag weiterfahren.
Nana: … machte ich eine fotojournalistische Reise nach Pakistan. Das hat mir sehr gut gefallen. Wenn ich darüber nachdenke, denke ich, dass es ziemlich lange gedauert hat, bis ich meinen Weg dahin gefunden habe, aber vorher hätte es auch nicht zu mir gepasst.
Als ich 44 war …
Erna: … hatten wir einen amerikanischen Schüler für vier Wochen bei uns aufgenommen und da gerade die olympischen Spiele in L. A. waren, haben wir alle zusammen vor dem TV gefiebert.
Nana: … ging ich wie jeden Heiligabend, wo ich daheim bin, mit meinem Bruder zu meinen Eltern und vorher besuchen wir das Grab meiner Schwester und machen ein Foto von uns. Danach packen wir Geschenke aus und essen Kartoffelsalat mit Würstchen und spielen etwas und gehen spazieren und das solange ich mich erinnere. Ich mag Heiligabend.
Zusätzlich hatte ich eine zweite Motivation für dieses Fotoprojekt. Als (Reportage-)Fotografin übermittle ich Einblicke in die Leben anderer Menschen. Da finde ich es nur gerecht, wenn andere auch einen Einblick in mein Leben erhalten. Das komplette Projekt findet Ihr auf meiner Webseite.