Shanghai im Wandel der Zeit
Es ist Sonntagmorgen. Shanghai, die Perle des Orients erwacht, Licht flutet die Alleen und die Sonne ziert sich im Spiegelbild der Glasfassaden. Die Einwohner treffen sich zum morgendlichen Tai Chi im Park und Straßenhändler verkaufen Frühstücksleckereien in dampfenden Bambuskörben.
Doch in vielen Ecken bleibt es dunkel. Dort, wo noch das alte Shanghai ist. Ein Schanghai, das nach und nach schwindet. Ich verlasse die U-Bahn-Haltestelle Caoyanglu und laufe ein paar hundert Meter, vorbei an einem herzerwärmend grinsenden Schuster, bis ich einen kleinen Markt betrete. Obst-, Gemüse- und Fleischhändler bieten ihre Waren feil und wundern sich, ob der „Laowai“ (Ausländer) sich hierher verlaufen hat. Sie grinsen und tuscheln, mehr schreiend als flüsternd und ich kaufe frisch gebackenes Sesambrot.
Mit der Kamera in der einen und dem Brot in der anderen Hand komme ich in ein angrenzendes Wohnungsviertel. Die Gassen sind eng und oftmals weniger als einen Meter breit. Sie sind so eng, dass das Licht kaum die Gassen flutet.
Die Häuser folgen einem typischen Schema. Die Küche befindet sich im Erdgeschoss, gleich neben dem Eingang. Eine Abluftanlage gibt es nicht, dafür aber ein Fenster und die Wohnungstür, die immer offen zu sein scheinen. Klimaanlagen gibt es selten, Heizungen sowieso nicht.
Schanghai ist eine sichere Stadt. Ich habe bisher keine einzige Situation erlebt, in der ich mich bedroht gefühlt habe. Man begegnet freilich manch einem Trunkenbold, der einem auf scheinbar komische Art auf die Nerven gehen kann; mehr aber auch nicht.
Eine ältere Dame kreuzt meinen Weg, mit einem Lächeln rufe ich ihr zu: „Zao Shang Hao, Ni chi le ma?“ (Guten Morgen, hast Du gut gegessen? – Eine typisch chinesische Floskel und ein „Türöffner“). Wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass das Viertel nächstes Jahr abgerissen wird. Eine Geschichte, die man, wenn man will, hunderttausendfach hören kann. Von der Stadtmitte bis in die Vororte.
Die Dame lädt mich in ihr Haus ein. Ein Zimmer pro Stockwerk. Im Bett liegt ihr Mann, 96 Jahre alt. Er ist krank und sie füttert ihn mit Apfelbrei. Es ist ein irgendwie verstörend bewegender Moment. Sie lächelt und frägt mich in einem Gleichmut, was ich in Shanghai so treibe, während ihr Mann bewegungsunfähig im Bett liegt.
Mit einem ISO-400-Film schaffe ich es dennoch irgendwie, in diesem schwarzen Loch ein halbwegs scharfes Bild zu machen. Fenster gibt es, Licht fällt jedoch keines ein. Ein paar Wolframlampen sind alles, was ich habe und so mache ich noch ein Polaroid, übergebe es ihnen, bedanke mich tausendfach und ziehe weiter.
Der Duft von Essen durchzieht die Gassen. Lächelnd lure ich durch ein Küchenfenster und gebe der Köchin gestisch zu verstehen, dass es köstlich duftet. Noch bevor ich weiterziehen kann, werden mir schon frisch gebratene Lotus-Bällchen angeboten. Man stelle sich vor, ein Chinese läuft mit gebrochenem Deutsch durch ein Viertel in Berlin und guckt den Einwohnern durchs Küchenfenster. Die Reaktion wäre vermutlich etwas anders. Mit was für einer Offenheit die Menschen hier Fremden entgegenkommen können, ist für einen Deutschen oftmals kaum zu greifen.
Diese kleinen Viertel sind in sich selbst funktionierende Ökosysteme. Es gibt kleine Werkstätten, Zigaretten- und Schnapsläden und einen angrenzenden Frischwarenmarkt. Man findet hier mit Sicherheit auch jemanden mit Stuhl und Schere, der sich dann als Friseur schmückt.
Ich verlasse das Viertel, kreuze die Straße und stehe mitten in einer Ruine. Hier hat der Abriss bereits begonnen. Einzelne Häuser von Familien, die sich gegen die Umsiedlung weigern, stehen inmitten von Schutt und Asche. Dystopia. Kinder spielen mit Hunden im Bauschutt. Männer sitzen im „Garten“ und spielen scheinbar sorglos Majiang, ein chinesisches Brettspiel.
Tatsächlich gibt es viele Bewohner, die sich das teuer zu stehen kommen lassen. Schanghai, eine Stadt mit 24 Millionen Einwohnern, dürstet nach Platz und dafür greifen Investoren gern tief in die Tasche. Wird man sich nicht einig, zeigen sie einem, was passiert, wenn man die sogenannte Generosität ablehnt: Der Abriss drumherum beginnt. Bezahlte Banden bedrohen die Verbliebenen und versuchen, sie zu verjagen. Es ist die Kehrseite der Medaille.
Häuser, oftmals über 100 Jahre alt, müssen neuen Wohnungen, Shopping Malls oder ähnlichem weichen. Fragte man mich vor sechs Monaten nach meiner Meinung, hätte ich in meinem fotografischen Egoismus geantwortet, dass es traurig ist und dass das Alte konserviert werden muss. Drei Monate später hätte ich etwas reflektierter erzählt, dass ich begriffen habe, dass es hier nicht nur um meine fotografischen Vorlieben geht und die Lebensbedingungen sich verbessern.
Es gibt Klimaanlagen im Sommer und zumindest elektrische Heizungen im Winter. Man muss sich die Toilette nicht mit dem ganzen Block teilen. Fragte man mich heute, würde ich antworten, dass der neu erworbene Wohlstand für viele Menschen ein Identitätsverlust ist. China, ein Land, das sich so rasend schnell verändert, zerrissen zwischen Tradition und Fortschritt.
Manch einer lebt seit über 70 Jahren im selben Haus. Man wurde hier geboren und möchte auch hier sterben. Würde man mich in ein paar Monaten fragen, würde ich vermutlich sagen, dass wie so oft die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt. Es wird langsam dunkel in Schanghai und ich mache mich auf den Heimweg, zurück ins Lichtermeer der Großstadt.