08. November 2016 Lesezeit: ~14 Minuten

Zwei Monate Vietnam

Ich hatte Fernweh. Damit fing alles an. Mein Studium hatte ich erfolgreich abgeschlossen und wollte das Ende dieses Lebensabschnittes mit einer ganz besonderen Reise feiern. Ich war noch nie wirklich weit weg und dieser Zeitpunkt fühlte sich wie eine letzte Chance an. Niemand, der mir sagt, wo es lang geht, keiner, der mir folgt. Ich wollte für mich allein sein. Eine Reise ins Unbekannte über zwei Monate hinweg.

Ich wollte nicht nur neue Gesichter und Landschaften vor die Linse kriegen. Ich wollte mich verlaufen, mich verlieren und mich wiederfinden. Von der großen Stadt über atemberaubende Landschaften bis zu traumhaften Stränden musste alles dabei sein. Ich packte meine Sachen und nahm zwei meiner Lieblingskameras mit, meine Nikon FM2 und meine Mamiya 7.

Eine Frau in einem Cafe

Der erste Halt auf meiner Reise war Hong Kong. Die Stadt hinterließ gleich nach meiner Ankunft einen bleibenden Eindruck. Die Dichte der Gebäude inszenierte mit den unterschiedlichsten Lichtspielen der Werbungen und Einkaufsläden immer wieder eine neue Kulisse. Dazu kamen Gerüche und Laute, die für mich nicht zuzuordnen waren. Was erst große Begeisterung auslöste, wurde mit der Zeit schleichend erdrückend. Vielleicht fand ich hier, zusammen mit den Essgewohnheiten, meinen ersten Kulturschock.

Vor meiner Reise nach Hong Kong hatte ich mir Orte ausgesucht, die ich unbedingt fotografieren wollte. Ein Bild der Skyline aus der Luftperspektive war davon ein fester Bestandteil. Am Abend als ich die Aufnahme geplant hatte, bekam ich von Sana eine Nachricht. Am Tag vorher hatte ich sie auf der Straße angesprochen und fragte, ob ich sie mit ihrem Mundschutz fotografieren durfte. Sie fand meine Idee urkomisch und verneinte höflich. Ich ließ ihr meine Nummer da und sagte, sie solle sich melden, falls sie es sich doch anders überlegt.

Ein Mann zieht sich die Kapuze über das GesichtEine Frau mir Atemschutzmaske

Am nächsten Tag bot sie mir an, mit ihr und ein paar Freunden durch Hong Kong zu ziehen. Sie zeigte mir ihre Stadt und Orte, an die ich ohne sie niemals gekommen wäre. Ich fühlte mich eine Nacht lang, als wäre ich einer von ihnen und konnte einen echten Einblick in das Alltagsleben bekommen. Letztendlich konnte ich sie und ihre Freunde auch zu ein paar Fotos überreden. Diese Bilder sind mir heute die liebsten.

Das geplante Foto der Skyline schoss ich an diesem Abend nicht, ich musste ohne aus Hong Kong abreisen und war etwas enttäuscht, mich nicht an meinen Plan gehalten zu haben. Im Zug wurde mir schnell klar, dass dieser Abend mein schönster in Hong Kong war. Ich hatte ein gewöhnliches Foto der Skyline, die schon gefühlte eine Million Mal fotografiert wurde, gegen ein authentisches Erlebnis eingetauscht.

Nachtaufnahme einer Großstadt

Von hier an nahm ich mir für den Rest meiner Reise vor, mich spontan auf neue Gegebenheiten einzulassen und sie nicht wegen einer festgefahrenen Idee auszuschlagen. Ein paar Tage später war ich in Hanoi, Vietnam. Die Hauptstadt sollte der Start vieler neuer Abenteuer sein. Von hier aus ging es auf den Reisterrassen, in die Berge von Sappa und mit dem Boot in die Ha-Long-Bucht. Die Stadt an sich hatte aber auch vieles zu bieten.

Hanoi fühlte sich nach den Straßen von Hong Kong wie eine kleinteilige Altstadt an, gefüllt von Motorrollern. Das weitreichende Streetfood-Angebot und die bunten Häuser, vor denen das Leben stattfindet, luden täglich zu langen Spaziergängen ein. Ich fühlte mich in dem Gewusel richtig wohl und kehrte nach jedem Ausflug gern nach Hanoi zurück. Ein Höhepunkt war sicher der Sonnenaufgang auf der Long-Bien-Bridge des berühmten Ingenieurs Gustave Eiffel.

Gleise zwischen einer schmalen Gasse

Eine Brücke über einen breiten Fluss

Pausenlos fuhren Motorroller vollbepackt mit Menschen und Waren über den roten Fluss in den Kern Hanois hinein. Ich schaute mir das Schauspiel mehrere Stunden lang an und schoss mit meiner Mamiya 7 ein paar Filme, um den Moment festzuhalten. Der Fluss schien stündlich seine Farbe zu ändern. Als er aber die leuchtend rote Sonne reflektierte, verstand ich die Herkunft seines Namens. An diesem Abend packte ich meine Sachen, um am nächsten Tag die Stadt zu verlassen und weiter nach Süden zu reisen. Ich wollte das ländliche Vietnam sehen und fuhr mit dem Bus nach Ninh Binh.

Hier fand ich eine wunderschöne Karstlandschaft vor, die von Bergen geprägt war, die wie Drachenschuppen zwischen den Reisfeldern in den Himmel ragten. Ich hatte hier ein Homestay gebucht und übernachtete bei einer vietnamesischen Familie. Während meiner ganzen Zeit in Ninh Binh sah ich keinen einzigen Touristen. Um das Umland zu erkunden, hatte ich mir einen Motorroller ausgeliehen und fuhr damit über die Schotterpisten an Dörfern und Reisfeldern vorbei.

Menschen arbeiten in Reisfeldern

Ein Steg

Die Menschen waren zurückhaltend, aber neugierig. Sie schienen nicht zu verstehen, was mich an den Rand ihrer Felder trieb, boten mir dennoch an, eine Schüssel Reis mit ihnen zu teilen. Die Frauen, mit Kegelhüten bekleidet, auf den Feldern beim Reisstechen zu beobachten, erfüllte jede Erwartung, die ich an das Hinterland Vietnams gehabt hatte.

Als ich bemerkte, dass ihnen das Fotografieren unangenehm war, packte ich meine Kamera ein und genoss einfach den Augenblick. Nach ein paar Tagen in Ninh Binh machte ich mich schweren Herzens wieder auf den Weg. Ich nahm den Nachtbus nach Hue. Die Stadt war leider eine große Enttäuschung, sodass ich gleich am nächsten Tag weiter nach Hoi An reiste. Ich hörte von anderen Reisenden, die in dieser Stadt schon gewesen waren, dass es da unglaublich schön sei. Auch hier entschied ich mich, bei einer vietnamesischen Familie zu übernachten.

Eine Frau trinkt

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits fast einen Monat lang unterwegs. Die Motivation, täglich zu fotografieren, war nicht mehr so stark wie am Anfang. Bis dahin hatte ich beinahe jeden Tag einen Film geschossen, in Hoi An blieben meine Mamiya und meine Nikon auch mal für einen ganzen Tag im Rucksack. Die Stadt machte mir Spaß, die Straßenszenen waren schön und die traditionellen Teehäuser authentisch, doch sie war von Touristen überlaufen.

Es war Lichterfest und viele Menschen kamen, um daran Teil zu haben. Bei Nacht gingen alle elektrisch betriebenen Straßenlampen aus und die Stadt wurde ausschließlich von Laternen erleuchtet. Auf den Gewässern, die die Stadt durchquerten, wurden zu Hunderten kleine Laternen auf Papierboten gezündet. Was erst einmal wie eine romantische Vorstellung klingt, führte in Wahrheit dazu, dass durch die großen Menschenmassen Hoi An erheblich an Charme verlor. Die Veranstaltung machte Spaß, hatte aus fotografischer Sicht für mich aber keinen Reiz.

kleines HäuschenPalmen

Um auch von dieser Etappe Bilder mit nach Hause zu nehmen, entschied ich mich deshalb, dem Ganzen zu entfliehen und mit meinen Roller etwas außerhalb zu fahren. Ich fuhr an diesem Tag solange, bis der Tank leer war. Ich kam an älteren Dörfern vorbei, auf denen kleine, alleinstehende Häuser zu finden waren, die doch einen seltsamen Eindruck hinterließen. Die Gebäude schienen aus einem einzigen Zimmer zu bestehen. Hier fand ich neue Motive, die für mich aufregend waren und versuchte, von der Architektur etwas festzuhalten.

Hoi An eignete sich insofern besonders gut dazu, weil die Stadt zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes von Bauprojekten umgeben war. Megastrukturen für Touristen waren genauso vertreten wie Wohnbausiedlungen für Vietnamesen. Die Stadt Hoi An soll in Zukunft wohl weitaus mehr Menschen in ihren Bann ziehen als sie es heute schon tut. Ich bin jedenfalls froh, die Stadt noch in diesem Zustand erlebt zu haben.

Eine Wäscheleine vor einem Baugerüst

Nach einem kurzen Aufenthalt in Da Nang nahm ich den Flieger nach Saigon, Ho-Chi-Minh-City. Die Atmosphäre hier war eine ganz andere. Die Stadt war viel moderner als die Städte, die ich zuvor in Vietnam besucht hatte. Viele Hochhäuser, exklusive Hotels, große Einkaufszentren und teure Läden. Nachdem ich eine Weile durch kleinere Ortschaften gereist war, brachte Saigon frischen Wind in mein Abenteuer.

Die Stadt ist groß und lässt sich nicht in ein paar Tagen erkunden. Ich packte wieder Filme ein und machte mich auf den Weg. Ich wollte Menschen fotografieren und schaffte es, zwei Sessions zu vereinbaren. Als ich durch die Straßen ging, fiel mir auf, dass Saigon aus zwei Welten bestand. Die offensichtliche, die glänzende, die sich von ihrer besten Seite zeigt. Dieses Saigon bekommt man zu sehen, wenn man auf den Alleen und Boulevards der Stadt spazieren geht.

Blick auf eine Metropole

Portrait vor einem Graffiti

Die versteckte Seite befindet sich innerhalb der Straßenblocks. Hierhin gelangt man durch enge Gassen und entdeckt unglaublich kleine Häuser und Werkstätten, in denen gearbeitet wird. Man hat das Gefühl, einen Ameisenbau zu betreten. Auch wenn es hinter den Fassaden teilweise etwas unheimlich werden konnte, fühlte ich mich nie unsicher. Die Wohnungen der Menschen hatten keine gewöhnliche Eingangstür. Die komplette Fassade ging wie ein Garagentor auf und ließ direkt ins Wohnzimmer blicken.

Als ich hier entlangging, konnte ich intime Einblicke in die Lebensweise der Menschen bekommen. Teilweise hatte ich das Gefühl, durch ein Möbelhaus zu spazieren und unterschiedliche, bewohnte Schlaf- und Wohnzimmer zu bestaunen. Die Leute begrüßten mich und schienen nicht in ihrer Privatsphäre gestört zu sein. Bald trat ich in jede Gasse ein, die ich finden konnte, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Hier machte ich die meisten Bilder und konnte nicht genug davon bekommen. Wenn ich müde wurde, ging ich aus dem Inneren der Straßenblocks hinaus in eines der tollen Restaurants, die Saigon zu bieten hat. Ich trank, aß und sortierte meine Ausrüstung neu, bevor es dann wieder hinein ging.

Dicht befahrene Straße

Ich nahm mir oft vor, die Menschen direkt zu fotografieren, in ihren Häusern, ohne zu fragen. Viele Straßenfotograf*innen hätten aus den Situationen wohl mehr machen können als ich. Ich hatte da leider so meine Hemmungen und hörte nach ein paar Tagen auf, mich über meine Zurückhaltung aufzuregen. Ich versuchte viel mehr, etwas zu machen, was meinem Stil entspricht und war mit dem Ergebnis dann auch zufrieden.
Saigon hat viele Motive zu bieten, meine Zeit war mit fünf Tagen dann doch etwas knapp bemessen. Ich hatte einen Ausflug nach Mui Ne geplant und stieg mal wieder in einen Bus, der mich dahin brachte. Die kleine Ortschaft am Meer wurde sehr idyllisch beworben, leider erwartete mich bei meiner Ankunft eine herbe Enttäuschung. Das kleine Fischerdorf war eher eine Art Ballermann. Eine Hotelanlage neben der anderen und viel Alkohol. Ich blieb hier nicht lange und war froh, als ich dann endlich weiter zog.

Haus zwischen PalmenPalmen in schwarzweiß

Mein nächster Halt war das Mekong-Delta. Dort schlief in einer kleinen Bambushütte unter einem Moskitonetz. Tagsüber fuhr ich mit dem Bot zu den schwimmenden Märkten und stellte fest, wie sehr das Leben vom Wasser diktiert wurde. Alles folgte dem Fluss und seinen Launen. Die Reiskammer Vietnams, wie das Mekong-Delta auch genannt wird, ist unglaublich grün. Grün, soweit das Auge reicht. Ich freute mich erst über die ganze Natur. Saigon und Mui Ne hatten in dieser Hinsicht nicht viel zu bieten. Mir fiel es aber schwer, die Stimmung fotografisch festzuhalten.

Ich hatte das Gefühl, unendlich viele Grüntöne auf der Mattscheibe zu haben und konnte nur selten eine zufriedenstellende Komposition finden. Trotzdem war es eine gute Entscheidung, das Mekong-Delta besucht zu haben. Ich traf hier unglaublich nette Menschen und machte tolle Spaziergänge entlang der unzähligen Kanäle. Vielleicht hätte ich einen zusätzlichen Halt im Mekong-Delta planen sollen, um mehr Landschaften der Region kennenzulernen.

kleine Fischerboote

Fischerboot

Ich blieb hier insgesamt drei Tage und fuhr zurück nach Saigon, um dann mit dem Flugzeug meine letzte Station anzusteuern. Ich war bereits über sechs Wochen unterwegs und wollte, bevor es nach Deutschland zurückgeht, unbedingt noch zum Strand. Ich nahm das Flugzeug auf die Insel Phu Quoc und entspannte noch einmal richtig. Ich fotografierte hier nur noch ganz ungezwungen. Mir war es wichtig, ganz in Ruhe meine Erlebnisse zu verarbeiten und die Zeit vor Ort ein letztes Mal zu genießen.

Vietnam war mir ein toller Gastgeber gewesen. Ich hatte vieles erlebt und vieles gesehen. Ich hatte mich schneller als gedacht in eine Kultur eingelebt, die mir erst fremd war. Als ich dann in den Flieger nach Deutschland stieg, freute ich mich auf die Heimat, ich war aber auch traurig, dieses Land zu verlassen. Ich hatte auf meiner Reise über 60 Filme geschossen und insgesamt 103 Filme mit mir herumgetragen. Ich konnte nur hoffen, dass ich damit genug Erinnerungen und Momente festhalten konnte.

Reisfelder

Warum ich mich für Film entschieden habe, hat einen ganz einfachen Hintergrund. Ich besaß zu diesem Zeitpunkt keine digitale Kamera und hätte meine Reise nicht in dem Umfang machen können, wenn ich die Investition in neue Ausrüstung getätigt hätte. Die Reise ging an dieser Stelle ganz klar vor. Die meisten der Filme, die ich mitnahm, hatte ich bereits im Kühlschrank und musste daher nicht viel Geld ausgeben.

Letztendlich ist es auch egal, mit welcher Ausrüstung man sich auf den Weg macht. Viel wichtiger ist die Reise an sich. Für mich wird Vietnam immer etwas Besonderes sein und wenn ich kann, werde ich auch dorthin zurückkehren. Eines steht fest, die nächste Reise kommt bestimmt.