Vom Tagträumen und Pausieren
Im März 2010 lerne ich bei einer Busfahrt in Kambodscha den damals als Filmvorführer in einem Bochumer Kino arbeitenden Sozialarbeiter Patrick Wendt kennen. Wir beschließen, in Phnom Penh in dasselbe Hostel zu ziehen und die nächsten Tage gemeinsam zu verbringen. Seine große Passion fürs Fotografieren fiel mir bereits zu diesem Zeitpunkt sofort auf und so erkannte ich schnell, dass Patrick weit mehr mit seinen Kameras anstellte, als lediglich zu knipsen.
In seinem Rucksack schleppte Patrick eine Handvoll Kameras mit sich herum. Das neueste Modell dürfte aus den frühen Neunzigern gewesen sein. Das digitale Zeitalter der Fotografie ignorierte er damals gekonnt.
Ich fand es extrem faszinierend, wie er – während ich mein dreitausendstes Urlaubsfoto auf meine SD-Karte bannte – zu einem uns wildfremden alten Khmer hinüberschlenderte und ihn in Sekundenbruchteilen und lediglich mit Gestik und Mimik wissen ließ, dass er gerne ein Portrait von ihm machen wollte. Ein natürliches Portrait: Grinsen verboten!
Es dauerte Monate, bis ich dieses und weitere Fotos, die er auf eben diese Art machte, endlich zu Gesicht bekam. Ein Vorschaudisplay hatte ja keine seiner Kameras. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich – als ich seine Bilder erstmals auf Facebook sah – dachte: „Verdammt … diese Bilder sind unfassbar gut. Wieso habe ich nicht solche Fotos geschossen?“
Ich kann mir mittlerweile erklären, warum: Patrick weiß, was er will und er hat keinerlei Berührungsängste. Mir kam es immer grenzwertig despektierlich vor, mit einer Kamera auf einen Fremden zuzugehen. In den Gesichtern der Personen, die Patrick Wendt fotografiert, sieht man vieles, aber eines nicht: Unwohlsein.
Die Menschen, denen Patrick mit seiner Kamera begegnet, werden nicht zur Schau gestellt. Es gibt keine albernen oder peinlichen Gesichtsausdrücke. Und wenn es sie gibt, veröffentlicht er sie nicht. Darauf legt er großen Wert. Die Menschen, die er fotografiert, scheinen diesen Respekt, den er ihnen entgegenbringt, zu spüren.
Als Fotograf kann und muss man vieles erlernen. Die Gabe, innerhalb weniger Sekunden Vertrauen zu einem Menschen aufzubauen, mit dem man eigentlich nicht ein Wort wechseln kann, muss jedoch viel mehr an Patricks Wesen liegen. So etwas kannst Du nicht lernen.
Im Juni 2016 beginnt der mittlerweile hauptberuflich die Welt bereisende 31-Jährige mit der Veröffentlichung seiner neuen Serie: „Daydreaming“. Eine Reihe aus 24 Fotos, die er – mittlerweile im digitalen Zeitalter angekommen – mit seiner Fuji x100 schoss: „Das ist ’ne kompakte Kamera, die in jede Tasche passt, unkaputtbar scheint und super in der Hand liegt“, erklärt er.
„Daydreaming“ besteht aus Bildern, die Patrick unter anderem in Thailand, Malaysia, Japan, Myanmar, Bolivien, Peru und dem Iran aufnahm. Sie zeigt Menschen, die irgendwo in der Öffentlichkeit eine Pause vom Alltag machen und schlafen. Hier gibt es keine Interaktion mit den Fotografierten.
Patrick muss die Situation nehmen, wie sie ist. „Es ist spannend“, meint er. „Ich kann eben nichts ändern: Hintergrund, Lichtverhältnisse etc. Da hat man manchmal das beste Motiv, aber das Foto ist totaler Mist.“
Das erste Foto dieser Reihe entstand am Flughafen von Bangkok, wo Patrick diesen Mann sah, der sich für sein Nickerchen ein Geschirrtuch samt Brille aufs Gesicht gelegt hatte: „Das fand ich witzig und hab’s fotografiert“, lacht er.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass hieraus eine Serie müder Menschen entstehen würde, die unter anderem bis zum 13. August in der Bochumer Goldkante und demnächst auch in der Dortmunder Luups Galerie ausgestellt wird. Er hofft, mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne bald einen ganzen Bildband aus dem Projekt machen zu können.
Patrick sucht nicht händeringend nach einer Botschaft in seiner Reihe. Er ist reiner Beobachter, gleitet hier und da selbst in Tagträume ab und stellt sich beispielsweise vor, wie ein Arbeiter in Deutschland seine Müdigkeit verstecken und sich wohl niemals so öffentlich ausruhen würde. Weitere Worte verliert er keine, denn viel aufregender findet Patrick, was andere aus seinen Momentaufnahmen machen.
So sitze auch ich wieder einmal vor dem Monitor und schaue mir Patricks Bilder an. Ich erfreue mich an dem Leben, das Patrick in all seine Aufnahmen zu bannen weiß. Hierin sehe ich die größte Stärke dieses so begabten wie auch zugleich genügsamen Menschen.
Selbst Schlafende setzt Patrick Wendt so gut in Szene, dass sie eine Atmosphäre, eine Kraft ausstrahlen, die den Betrachter sofort in den Bann zieht. Gesichter erzeugen am nächstliegenden Emotionen.
In „Daydreaming“ stehen dem Fotografen oftmals keine Gesichter als Motiv zur Verfügung. Patrick setzt in seiner Serie Protagonisten so in Szene, dass anstelle eines Gesichtes die Umgebung dazu beiträgt, die Erschöpfung zum Ausdruck zu bringen.
Besonders beeindruckend ist ihm dies bei der in rosa gekleideten Essensverkäuferin gelungen, die, auf eine geputzte Pfanne gelehnt, ihr Gesicht in ihren Armen begräbt. Das Essen ist abgeräumt, im unscharfen Hintergrund erledigt ein Mann noch die vermutlich letzten Arbeiten des Tages.
Die Tonne, die hinter der Protagonistin steht und farblich perfekt zu ihren Klamotten passt, wirkt zudem noch wie ein schwerer, schwerer Rucksack. Die Ermüdete scheint in ihrer rosafarbenen Kleidung und der Schleifenspange so zart und zerbrechlich, dass man ihr am liebsten ein Kissen unterschieben möchte.
Bei Patricks Bildern ist es zwangsläufig, dass man sich Gedanken macht. Gedanken zu jeder einzelnen Person, die er vor der Linse hat. Ich ersinne mir einen Alltag für diese Menschen und frage mich, ob ich überhaupt so genau wissen möchte, was die tatsächliche Geschichte hinter dieser und jener eingelegten Pause ist.
Sind diese Menschen glücklich? Sind sie es nicht? Ist ihre Arbeit so auslaugend? Wie viel verdienen sie? Besteht ihr Leben auch noch aus etwas anderem als aus Arbeit? Oder sind sie oder ihr kultureller Hintergrund in dieser Hinsicht vielleicht einfach nur so entspannt, dass ihnen ein Schläfchen in aller Öffentlichkeit am Allerwertesten vorbeigeht?
Dann schalte auch ich ab, genieße die teilweise erschreckend erschöpft und zudem noch äußerst skurril wirkenden Einblicke in fremde Kulturen sowie deren „Tagträumer“ und konzentriere mich wieder auf banalere Dinge: „Wie findet man nur so viele Schlafende?“