Schönlinge
Ich sah Lisa Haalck in einer Talk-Runde des Kölner Treffs. Ich war tief berührt. Mit ihrer offenen und sehr sympathischen Art vermittelte sie ein Thema, mit dem die Betroffenen in der Regel nicht hausieren gehen: Haarausfall. Seit ihrem 11. Lebensjahr ist Lisa selbst betroffen von kreisrundem Haarausfall. Ein langer Weg liegt hinter ihr, um sich und die Erkrankung akzeptieren zu können.
Anfang dieses Jahres entstand gemeinsam mit der Münsteraner Fotografin Ingrid Hagenhenrich das Foto- und Mutmachprojekt „Schönlinge“. Ein Projekt von und mit 25 Frauen, die ebenfalls betroffen sind. Sie weiß, wovon sie spricht, vor allem, wie es sich anfühlt. Ich begann zu recherchieren und wollte mehr erfahren. So nahm ich Kontakt auf, wir tauschten uns aus und es entstand das nachfolgende Interview.
Liebe Lisa, erzähl ein wenig über Dich und worum es Dir und der Mitbegründerin und Fotografin Ingrid Hagenhenrich im Fotoprojekt „Schönlinge“ geht.
Seit ich 11 bin ist Alopecia Areata meine – mehr oder weniger – ständige Begleiterin, mein Dreh- und Angelpunkt, meine Quelle der Verzweiflung, meine Hasskappe, mein Geduldsfaden und seit Kurzem meine Inspiration.
Schon 15 Jahre lang ist jeder Blick in den Spiegel eine Übung, mir selbst zu sagen, zu bestätigen und zu fühlen: Ich finde mich schön! Viele Jahre, in denen ich – in Anbetracht des offensichtlichen „Nichts“ auf meinem Kopf – in immer wiederkehrenden Gedankenschleifen versuche, Antworten zu finden auf die Fragen nach Weiblichkeit und Schönheit.
Neid im Anblick von Freundinnen mit blonder Lockenpracht und Friseurbesuchen begleiteten diese Jahre. Ebenso eine unbändige Sehnsucht – genau wie „jedes andere normale“ Mädchen – Mascara, Zopfgummis und Conditioner zu kaufen und die große Frage, ob man(n) Glatzen genauso hässlich findet, wie so manches Mal ich selbst meine eigene.
Es entwickelten sich ausgeklügelte Improvisations-, Retuschier-, und Camouflage-Strategien sowie Ausreden für Schwimmbadbesuche und Übernachtungspartys. Über allem schwebte die Angst, „entdeckt“ und „bloß“ gestellt, „entfraulicht“, in die „krank“-Ecke geschoben und letzten Endes als abstoßend empfunden zu werden. Tiefsitzend die Überzeugung, dass jede Frau voller Mitleid und jeder Mann ohne Interesse auf dieses „ich“ schaute, ohne Haare, ohne Wimpern, ohne „alles“.
Ich wollte zwar besonders, aber nicht anders sein. Vor allem aber wollte und will ich kein Mitleid und schon gar keine Extrawurst. „Schönheit kommt von innen!“ und „Liebe Dich selbst, so wie Du bist!“ mutierten zu einer ewigen Leier einer lästigen Phrasendreschmaschine. Lange glänzende Haare als Identitätskomponente, Visitenkarte und Aushängeschild. „Ach, stell’ Dich nicht so an, es sind ja nur die Haare.“ Sicher, Arm oder Bein ab wäre schlimmer. Trotzdem ist es deswegen nicht einfach, schön und gut.
Es kostete mich Jahre und tagtägliche Kraft, Geduld und Überzeugungsarbeit, die Begriffe „Glatze“ und „Schönheit“ nicht als Paradoxon zu empfinden. Heute ist die „Glatze“ für mich Ausdruck von Verletzlichkeit, Angst, Zartheit, Intimität und Blöße. Mit ihr verbinde ich viele Jahre voller (Selbst-)Hass, Ekel, Zweifel, Traurigkeit, aber mehr und mehr auch Selbstliebe, Geduld, Schönheit und Ästhetik. Mit „Schönlinge“ begebe ich mich genau auf die Suche nach dieser Schönheit, die sich für mich im Moment des scheinbaren Widerspruchs, des Bruchs und dem Sprengen von Idealen und Erwartungen zeigt.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, das dieses Projekt ins Leben rief?
Ingrid kannte ich vom Tanzen und ich wusste von gemeinsamen Freunden, dass sie ganz besondere Fotos macht. Ich war überzeugt, dass Ingrid mir durch ihre Fotografie helfen würde, mich auf die Suche nach meiner Schönheit zu begeben. Sechs Jahre habe ich gebraucht, um mich zu trauen – obwohl ich jedes Mal mit Ingrid darüber sprach, wenn wir uns sahen.
2013 hat sich für mich privat einiges verändert und ich fing langsam an, zunehmend offener mit meiner Erkrankung umzugehen. Anfang 2015 war es dann endlich soweit und weil ich wusste, dass ich sonst wieder einen Rückzieher machen würde, machten wir gleich einen konkreten Termin aus. Das Treffen im Februar war magisch und besonders und ich habe mich so wohl und gut aufgehoben gefühlt.
Ich war selbst total geflasht von meinem „plötzlichen“ Mut. Bis dahin hatte es noch kein einziges Foto von mir ohne Perücke oder Kopftuch gegeben. Zwei Stunden später – ich war unterwegs mit meiner besten Freundin – sah ich dann die ersten Fotos. Ich konnte nicht aufhören zu staunen und zu weinen vor Freude.
Auch meine Freunde waren total begeistert und wahnsinnig stolz, weil sie meinen jahrelangen Leidensweg begleitet hatten. Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Frau auf diesen Fotos bin. Das war der Schlüsselmoment und ich wusste: Das muss ich anderen betroffenen Frauen auch ermöglichen. Mehr oder weniger über Nacht entstanden die Idee und das Konzept zu „Schönlinge“.
Wann legt Ihr los mit der Projekt-Umsetzung und habt Ihr bereits „Schönlinge“ gefunden?
Nach der erfolgreich abgeschlossenen Crowdfundingkampagne fingen wir im September mit dem Fotografieren an. Mittlerweile haben wir bereits zwölf Frauen besucht und 1.325 km zurückgelegt. Es sind aktuell über 25 Frauen zwischen 15 und 53 Jahren aus ganz Deutschland, Österreich und Luxemburg. Auf der Warteliste stehen weitere 30 Frauen.
Nehmt Ihr auch Männer in Eure Sessions auf?
Wir hatten Anfragen von Männern und haben das auch diskutiert. Alopecia kennt weder Alter, noch Kultur oder Geschlecht. Deswegen ist es sinnvoll, auch Männer aufzunehmen, um ein breites Bild von den Betroffenen zu zeigen. Aktuell haben wir einen Mann in der Ausstellung. Der Schwerpunkt unseres Projektes liegt allerdings auf der Suche nach Schönheit und Weiblichkeit, trotz oder gerade wegen unserer Glatze.
Wie geht Ihr vor und welche Erfahrungen habt Ihr bisher mit der Projektidee gemacht?
Innerhalb des Projektes werden Ingrid und ich jede mutige Frau an ihrem Wohn- und Wohlfühlort aufsuchen. So sollen in ihrer Pracht der Haarlosigkeit natürliche und unverstellte Bilder entstehen. Momentaufnahmen mit ihren Kindern, Partnern oder allein, draußen oder drinnen. So privat und so intim, wie jede es selbst bestimmt und mag. Fotografiert wird bei natürlichem Tageslicht und in schwarzweiß.
Ingrid geht dabei sehr subtil vor. Die Entscheidung, bei den Frauen zu Hause zu fotografieren, war sehr bewusst. Um das maximale Maß an Authentizität zu erreichen, braucht man Sicherheit, Geborgenheit und eine Menge Mut. Auf beiden Seiten. Wir sind unglaublich bewegt, wie viel Vertrauen uns entgegen gebracht wird. Jedes Mal öffnen uns Menschen ihre Herzen und Türen und lassen uns einen Tag lang teilhaben an ihrem Leben.
Wir lachen immer ganz viel und manchmal müssen wir auch weinen. Zu jedem Besuch erscheint im Anschluss ein kleiner Beitrag auf dem Blog, jeweils aus der Perspektive des Schönlings und aus meiner. Da kann man sich, glaube ich, einen ganz guten Eindruck verschaffen, wie die Besuche bisher so waren.
Was passiert mit dem Bildmaterial?
Ingrid sichtet das ganze Material und sucht dann erst einmal drei Fotos aus, von denen die Frauen dann eins für den Blog auswählen. Danach wird den Frauen eine Auswahl von 20 Bildern ganz persönlich zur Verfügung gestellt. Wenn wir in die Planung der Ausstellung gehen, werden Ingrid und die Frauen die Fotos für die Wanderausstellung bestimmen, die an den Heimatorten der Frauen ausgestellt werden.
Ergänzt werden die Fotografien durch kleine Interviews mit Fragen wie: „Hast Du ein anderes Wort für Glatze?“, „Wenn Deine Glatze sprechen könnte, was würde sie jetzt sagen?“, „Wie fühlt sich Deine Glatze an?“, „Was ist das Beste an Deiner Glatze?“ oder „Was findest Du an Dir besonders schön?“
Was erhofft und wünscht Ihr Euch durch die Umsetzung?
Wir verfolgen verschiedene Ziele mit unserem Projekt. Zum einen möchten wir durch unseren Besuch jeder Frau die Möglichkeit geben, einen weiteren Schritt in Richtung Selbstakzeptanz zu gehen und einen Weg für sich im Umgang mit der Glatze zu finden, mit dem sie sich wohlfühlen. Das bedeutet nicht, dass jede Frau immer und überall mit ihrer Glatze rumlaufen muss. Es bedeutet in erster Linie, ein Sich-Wohlfühlen und nicht mehr ständig Verstecken-Müssen.
Für die eine bedeutet das vielleicht 20 verschiedene Tücher oder Perücken zu tragen oder die Glatze mit Tattoos, Glitzer oder Federn zu schmücken. Manche sind schon sehr selbstbewusst und sind immer „oben ohne“ unterwegs. Andere haben noch ganz große Zweifel, ob sie tatsächlich schön sind und entblößen sich vor Ingrids Kamera das allererste Mal.
Zum anderen soll die aus den Fotos und Geschichten entstehende Wanderausstellung für mehr Aufklärung über Alopecia Areata sorgen. Wir wollen durch eine etwas andere Auseinandersetzung mit den Themen Haar(-losigkeit), Weiblichkeit und Schönheit zu einem Diskurs über Schönheitsideale, Erwartungen und der Ästhetik des Ungewöhnlichen, des Anderen, des Unperfekten anregen.
Wie und wo erfährt man vom Verlauf des Projektes?
Die neusten Infos findet Ihr immer auf unserem Blog. Hier erhaltet Ihr Einblicke in unsere Besuchen bei den „Schönlingen“, könnt noch einmal in Fernseh- und Radiobeiträge reinhören und erfahrt den aktuellsten Stand der Dinge. Gerne könnt Ihr auch auf unserer Facebook-Seite vorbeischauen.
Wie kann man Euer Projekt unterstützen?
Unser Projekt kann man auf ganz unterschiedliche Weise unterstützen: Mit Tipps für größere Sponsoren, Vorschläge und Verbindungen zu Ausstellungsräumen oder Ideen für die Logistik der Wanderausstellung. Ansonsten kann man natürlich auch gern spenden für die Deckung der Reisekosten zu den „Schönlingen“ sowie Materialkosten. Bei Fragen und für nähere Infos dürft Ihr uns gern direkt kontaktieren.
Liebe Lisa und Ingrid, herzlichen Dank für die offenen Worte und das Aufmerksam-Machen auf ein Thema, das nicht sehr präsent ist und dennoch mehr Menschen betrifft, als man ahnt. Habt viele interessante, vor allem schöne und bewegende Momente auf Eurem Weg. Das wünsche ich Euch von Herzen.