03. November 2015

Brief aus der ruhigen Stadt

Hallo, mein lieber unbekannter Freund!

Oh, es ist schwer, ehrlich zu sich selbst zu sein. Um meine Geschichte zu erzählen, muss ich ganz vorn beginnen.

Ich wurde in einer ruhigen sowjetischen Stadt mit grünen Alleen, Sandkästen und anhaltendem Wiederaufbau geboren. Wir lebten am Stadtrand in einem neuen, hohen Mehrfamilienhaus. Der Hof war lebhaft und laut und jeder kannte jeden. Als ich ein Kind war, erzählten mir Freunde, dass ihre Eltern sie in einem Kohl gefunden hätten oder dass der Storch sie gebracht hätte.

Meine erste beste Freundin war immer stolz darauf, dass sie in den Erdbeeren gefunden wurde. Meine Eltern waren immer beschäftigt mit Arbeit und erzählten mir nie die Geschichte meiner Geburt, so dass ich nicht weiß, woher ich gekommen bin. Aber dieses Geheimnis machte mich zu einer Art Erfinder.

Als Kind ist die Welt unendlich weit. Zusammen mit meinen Freunden hatte ich die ersten Abenteuer in Brachflächen, in den Wäldern am Straßenrand … Viele Jahre sind vergangen, aber meine Heimatstadt bleibt die gleiche. Nur der Hof hat sich beruhigt und ich weiß nicht mehr, wer da wohnt.

Eines Tages fand ich mich in der Mitte einer Steinstadt wieder, in die ich zog. Ich schaute auf die Welt und verstand nicht, wie man an diesem Ort leben konnte. Es war schwer, mir einzugestehen, dass ich nicht mehr in ihr leben wollte. So kam ich zurück zu meiner langweiligen Provinzstadt.

Sie ist mehr als tausend Jahre alt, aber ich kann das Antike nicht fühlen oder finden. Meine Stadt wurde immer wieder zerstört und wieder aufgebaut. Dies ist keine Stadt – es ist viel mehr eine Illusion davon. Während ich dort lebe, habe ich das Gefühl, dass alles Leben nur ein Traum ist. Ich liebe meine Stadt für ihre seltsame Eigenschaft: Sie drückt Dich weg von der Wirklichkeit; so ist alles, was Du tun kannst, Deiner Fantasie freien Lauf zu lassen.

Ich habe das Gefühl, dass jeder, der hier lebt, in einer Art Verbannung ist. Glaubst Du, das ist schlecht? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt habe ich ein wenig Angst vor der Zukunft, die konkreter, synthetisch, rationaler sein sollte.

Ich habe alle Versuche, „erwachsen“ zu sein, gelassen. Ich wünschte, das zukünftige Leben wird poetischer sein und weniger von Psychoanalyse handeln. Ich träume naiv von Märchen für uns alle. Denn das Leben ist mehr als jede Ideologie, das Leben ist mehr als alle unsere Vorstellungen vom Leben.

Lieber Freund, lass das Leben weitergehen, auch wenn die Kindheit in einem Erwachsenen noch nicht vorüber ist! Vielleicht können diese Aufnahmen Dir Dinge sagen, die Worte nicht beschreiben können. Ich hoffe, dass Du etwas Vertrautes in den Augen meiner Freunde auf den Bildern siehst.

Mit freundlichen Grüßen,
Deine Freundin Kate S. aus Vitebsk

Eine Frau sitzt hinter einer Gardine

Eine Frau an einen Baum gelehnt

Eine Frau in Unterwäsche im Wald

Zwei Teenager auf einer Decke am Strand

Eine Frau mit Akkordeon

Eine Frau sitzt mit einer Tüte Äpfeln auf einem Stein

Ein Mann hält sein Gesicht in eine Hecke

Ein Mädchen mit Tränen in den Augen

Ein Mann steht auf der Straße vor einem Haus

Eine Frau liegt auf einem Bett

Eine Frau am Hafen auf einer Bank

Eine Frau vor einer Wand mit bunter Lichterkette hält sich ein rotes Stück Glas vor das Auge

Eine Frau mit heu bedeckt

Eine Frau im Wasser

Eine Frau sitzt vor einer Wand mit verschiedenen Schattenspielen

Dieser Brief wurde für Euch von Katja Kemnitz aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

Ähnliche Artikel