Transzendenz oder der Blick nach innen
Der Begriff „Transzendenz“ tauchte schon sehr früh in meinem Wortschatz auf. Ich glaube mich zu erinnern, ihn aus dem Mund meines Großvaters gehört zu haben, als ich mit ihm und meiner Großmutter wieder einmal in der Messe saß. Was meine Eltern als versierte Wissenschaftler übrigens gar nicht so toll fanden, mich aber mitgehen ließen, weil die Atmosphäre des alten Kirchenschiffs und der Duft nach Weihrauch eine zu große Fasziniation auf mich ausübten.
Überhaupt erinnere mich sehr gerne an diese Zeit; ich muss etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Die Welt war ein Geheimnis und ich seine auserkorene Erforscherin. Es war eine Zeit des Glaubens, Fühlens und letztendlich auch Verstehens.
Aber kommen wir zur Erklärung des Begriffs:
Das Wort „Transzendenz“ leitet sich vom lateinischen Begriff „transcendentia“ ab und bedeutet „das Übersteigen“. Man meint damit das Überschreiten einer (gedachten) Grenze, also unserer endlichen Erfahrungswelt. Im religiös-philosophischen Sinne steht es im direkten Gegensatz zur Immanenz.
Einfacher ausgedrückt wird damit ein Bereich bezeichnet, der der empirischen Erforschung verschlossen ist und nur durch Glauben bzw. unseren subjektiven Eindruck erfahren werden kann (hierzu auch Kant: „Kritik der reinen Vernunft“*). In der Romantik-Epoche nimmt der Transzendenz-Begriff einen hohen Stellenwert ein, da er sich mit den Innenansichten des Menschen (seiner Seele) beschäftigte und in Sprache und Bild Ausdruck fand.
Auch in der Psychologie wird der Transzendenz-Begriff immer wieder behandelt (C. G. Jung, Abraham Maslow, Roberto Assagioli). Cornelius von Collande sieht den Begriff „Transzendenz“ als eine Fähigkeit des Menschen, „ein beliebiges Problem quasi durch einen Bewusstseinssprung zu transzendieren“. Er versucht, den Begriff „von dem elitären, rein spirituellen Nimbus zu befreien“ (Collande, Zusammenfassung).
Was hat das Ganze nun aber mit Fotografie zu tun? Während meiner Recherchen für kwerfeldein bin ich immer wieder über Fotografen gestolpert, die in ihrem Portfolio Bilder zeigen, die sich mit übersinnlichen, unerklärlichen und außerkörperlichen Erfahrungen beschäftigten. Bilder, die sich eher poetisch-religiös anfühlten, in einer virtuellen Welt aus Nullen und Einsen. Ich hatte bis dato nie eine Bezeichnung dafür, möchte diese Bilder aber nun unter dem Begriff „transzendente Fotografie“ weiterführen.
Die Herangehensweise zur Erstellung dieser Fotos kann sehr unterschiedlich sein. Mal mit festem Konzept, mal zufällig entstanden, bietet das Thema Variationen und lässt Spielraum für die eigene Fantasie. Doppel- oder Mehrfachbelichtungen werden hierfür sehr gern genutzt. Vorbilder finden wir in der viktorianischen Zeit, in der Fotografen großen Gefallen an dieser Art des Sichtbarmachens fanden, allerdings eher, um Gläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Aber auch abgelaufenes Filmmaterial, bewusst zerstörte Negative, falsch entwickelter Film oder auch die Verbindung von Fotografie und Malerei sind Möglichkeiten, das Thema kreativ auszuloten. Also: Genauso, wie der Begriff eine Grenze überschreitet, überschreiten auch Fotografen und Künstler diese in ihren Arbeitsweisen.
Als erstes möchte ich zwei Arbeiten von Lisa-Marie Kaspar vorstellen. Sie benutzte die Mehrfachbelichtung eher zufällig in zweien ihrer Bilder, als sie Testaufnahmen für ihr Jane-Eyre-Projekt machte, bei dem sie ausschließlich analog arbeiten wollte. Erst, als sie die Bilder in den Händen hielt, entstand eine Geschichte zu den Bildern.
Sie selbst sagt dazu:
Auf dem ersten Bild handelt es sich ja schon fast um eine Art Auferstehung. Mich fasziniert die Bewegung und ihr Blick hier besonders. Der Ausdruck ist ruhig, fast schon von stoischer Gelassenheit, so als hätte sie ihr Schicksal akzeptiert, sich ihm hingegeben.
Das Bild, auf dem Maria schreitet, stellt für mich ein Zugehen auf etwas Helles, nicht Greifbares dar. Die Bewegung endet in der Auflösung der Person. Der Titel „so darkness i became“ klingt vielleicht auf den ersten Blick widersprüchlich, aber wenn man darkness unter dem Gesichtspunkt des Seelischen, Schmerzvollen betrachtet, löst sich die Person vielleicht deshalb auf.
Es handelt sich bei den Bildern also vielleicht um die Akzeptanz des eigenen Schicksals. Das Hinübergehen in einen anderen Bereich, sei es von der Realität ins Träumen oder vom Leben in den Tod. Ich sage vielleicht, weil es selbst für mich nicht 100 % greifbar ist.
Spannend an Lisa-Maries Ausführungen ist die Zufälligkeit des Entstehens. Bilder, die lediglich Testaufnahmen sind, liefern einen Bildinhalt, der es wert ist, mit anderen geteilt zu werden, um zu verstehen, was sie zeigen. Fragen über Existenz und Nichtexistenz, über Grenzen, die wir zumindest auf Filmaterial überschreiten können.
Die zweite Fotografin, die ich vorstellen möchte, ist Colette Saint Yves. Sie ist eine junge, freischaffende Künstlerin aus Frankreich, die an der Universität Lille Filmwissenschaften studiert. Sie ist eine große Bildersammlerin und eine große Kinogängerin.
Sie nutzt alte, abgelaufende Schwarzweißfilme und Doppelbelichtungen, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Aber auch Collagen und Malerei verbindet sie auf alten Fotografien, die sie sammelt, zu etwas Neuem, wie auf dem zweiten Bild zu sehen ist.
Das Bild mit dem Portrait meiner Nichte im Kornfeld ist in der Nähe vom Haus meiner Mutter aufgenommen. Ich war froh, zu sehen, dass der abgelaufende Film dem Bild eine weitere Dimension gibt.
Ich sammle alte Fotografien, weil ich mich beruhigt fühle, wenn ich von ihnen umgeben bin. Ich liebe es, unangenehme, seltsame und schöne Details auf ihnen zu finden. Sie inspirieren mich.
Meine Motivation zu Beginn war ein bisschen egoistisch, denke ich. Meistens, wenn ich eine Collage erstelle, ist das ein Weg, etwas auszudrücken, wie ich es nicht mit Worten kann. Ich denke, in der Fotografie ist es das Gleiche. Es ist mir eine große Erleichterung und es erlaubt mir, ich selbst zu sein. Und natürlich bin ich sehr gerührt, wenn meine Kunst im Gespräch mit anderen ist.
Wo Sprache nicht mehr ausreicht, wo Worte zu wenig sind, ist ein Bild Mittel zur Kommunikation. Colette Saint Yves’ Arbeiten sind daher sehr persönlich. Ihre Bilder dröseln Grenzen auf, zwischen Fiktion und Realität und zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Kathleen Mercado ist die dritte Fotografin, deren Arbeiten mich sofort ansprachen und die ich mit dem Begriff Transzendenz verbinden konnte. Geboren in Texas, ist sie erst sehr spät zur Fotografie gekommen. Auf meine Fragen zur Transzendenz in Bezug zu ihren Arbeiten hat sie Folgendes geantwortet:
Meine Arbeit ist von meinen eigenen Gefühlen der Einsamkeit inspiriert und dem Schwanken zwischen Realität und Traum. Meine Selbstportraits sind oft mit der Idee gemacht, nicht wirklich in die Gegenwart zu gehören. Ich fühle so, seit ich ein kleines Mädchen bin. Die Fotografien bringen mein inneres Gefühl von Isolation und Getrenntsein zum Ausdruck. Anderssein ist, was ich im Inneren fühle, aber nicht in Worte fassen kann.
Was alle drei vorgestellten Fotografinnen verbindet, ist zum einen der sehr persönliche Bezug zu den Bildern, als auch die immer wiederkehrenden Begriffe Traum bzw. Tod. Ebenfalls verbindet sie das intuitive Arbeiten, das zur Erstehung der Bilder führt. In den Bildern von Kathleen Mercado kommt noch die Fremdheit ihrer selbst zur Welt hinzu. In den Bildern ist es möglich, die uns auferlegten weltlichen Grenzen zu überschreiten, um dahinter zu schauen.
Ich denke, dass die Fotografie eine wunderbare Möglichkeit ist, Dinge, die wir fühlen und erfahren, aber nicht greifen können, zu verbildlichen. Denn egal, welche Sprache jemand spricht, ein Bild kann intuitiv erfasst werden und bedarf oft keiner weiteren Erklärungen. Ich bin meinen Eltern jedenfalls dankbar, dass sie mir eine Welt ermöglichten, in der Wissenschaft und Glaube Hand in Hand gehen.
Weiterführende Lektüre:
– Alfred Gierer: Wissenschaftliche Rationalität und religöses Weltverständnis – Zweifel und Harmonie (PDF)
– Cornelius von Mitschke-Collande: Die Kompetenz der Transzendenzfähigkeit – Eine Studie zur Bewusstseinserforschung (Doktorarbeit, PDF)
– Filmtipp: Transcendence (2014) von Wally Pfister
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