War das Absicht?
Ich habe Fotografieren schon immer für ein probates Mittel gehalten, Zeit in den wichtigen Momenten des Lebens einzufrieren. Die Fotos in meinen Familienalben sind dafür ein gutes Beispiel:
Ich und mein Vater sitzen auf einem gigantischen Ameisenhaufen, mein Vater bläst das Vorderrad seines Auto mit einer Fahrradpumpe auf, Landschaften, massive Felsen, meine Mutter fährt mit unserem kleinen Affen auf den Knien Auto. Mein Vater tut so, als ob er über einen Selbstmord am Rand eines überlaufenden Flusses nachdenkt.
Die Jahre vergingen und je öfter ich zurückschaue und diese Bilder ansehe, desto mehr sehe ich Details, die mir zuvor nie aufgefallen sind: Körperhaltungen, Kleidung, Gesichtsausdrücke, die Blickrichtung der Augen und schau, wie das Foto kippt!
War das Absicht? Wo schaut sie denn hin? Warum hat sie diesen traurigen Blick in ihren Augen? Und warum ist das Teil da drüben zur Hälfte abgeschnitten?
Ab einem gewissen Punkt in meinem Leben fing ich an, eine Menge Fragen zu stellen und Dinge anzusehen, für die ich bis dahin noch blind war. Die Fotografie half mir in diesem Prozess ungemein – sowie Bücher von Roland Barthes, Susan Sontag und Italo Zannier.
Zu Beginn war ich eher so der Minimalistik-Typ. Ich schaute nach Geometrien, sauberen Flächen und überkreuzenden Schatten. Doch irgendwann musste ich das menschliche Wesen ins Bild bringen. Ich wusste nicht warum, aber es musste so sein.
Dann entdeckte ich die so genannte Straßenfotografie und eine innere Leidenschaft war in mir geboren.
Soziale Netzwerke und der konstante Austausch von Feedbacks in Straßenfotografie-Gruppen wie FDS (eine italienische Gruppe, die für mich damals sehr attraktiv war) und HCSP lösten in mir das Bedürfnis aus, meine Realität zu dokumentieren.
Recht bald merkte ich, dass es sehr spezifische Regeln gibt, die es nach Ansicht der Puristen des Genres zu erfüllen gilt und ich spürte, dass ich da nicht dazugehörte.
Genres mit ihren Grenzen zu definieren, erzeugt mehr Verwirrung als Ordnung und eines Tages entschied ich, dass es so etwas wie Straßenfotografie nicht gibt. Sie existiert als eine Art Geistesverfassung und ist offen für jeden Aspekt und jeden Bereich, den man beobachten kann.
Als ich mir dann des großen Potentials der Fotografie bewusst wurde, begann ich, das zu nutzen. Ich spürte, dass dies ein Weg ist, Dinge zu sehen, Wissen zu vertiefen, Menschen kennenzulernen und neue Beziehungen aufzubauen.
Die Kamera ist nur ein Werkzeug und seine Aufgabe ist es, Dinge aufzunehmen. Es sind die gleichen Bilder, die meine nackten Augen wahrnehmen, bevor sie im unendlichen Fluss der Realität versinken.
Wenn ich es schaffe, diesen einzelnen Tropfen der Realität festzuhalten, dann kann ich Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Der Akt der Beobachtung dieses Tropfens gibt mir den Eindruck (lies: Illusion), dass ich die ganze Szene verstehen kann.
Natürlich ist der Tropfen niemals der richtige und deshalb wird die Jagd danach immer heftiger, endloser, oft auch frustrierend, denn obwohl ich weiß, dass der richtige Tropfen nicht existiert, möchte der irrationale Teil in mir ihn einfangen.
Dieser Artikel wurde von Martin Gommel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.