Wer liest den Aushangfahrplan?
Wer liest heute eigentlich noch den Fahrplan? Nicht im Netz mit dem Smartphone, auch nicht die Digitalanzeige. Nein. Den guten, alten, gelben oder weißen Aushangfahrplan, wie er schon jahrelang an Bahnhöfen hängt. Dieser Frage bin ich im Juni eine Woche lang im Rahmen einer kleinen Fotoreportage mit dem iPhone nachgegangen und bekam viele Antworten, die ich mit bis dato unveröffentlichen Aufnahmen zeigen möchte.
Wenn ich mit der Bahn längere Strecken fahre, schaue ich zuvor im Netz alle Fahrzeiten nach und bin bestens informiert, wohin ich wann muss, sollte ich mal umsteigen müssen. Oft habe ich sogar das Ticket auf dem Smartphone und muss nicht einmal Papier mit mir herumtragen. So genügt ein Blick auf meinen Apfelapparat für alles. Ich habe auch kein Fahrtenbuch oder Heftchen mit den Abfahrtzeiten.
Jedoch ist das erst seit ein paar Jahren so. Davor verließ ich mich auf mein Gedächtnis oder studierte vor Fahrtantritt das Fahrtenheftchen zu Hause. Vor Ort ging ich dann auf den gelben Plänen alles noch einmal durch und vergewisserte mich bei Umstiegen nochmals vor Ort. So viel zu meiner bisherigen Erfahrung.
Zu Projektbeginn musste ich mich daran gewöhnen, dass in Karlsruhe vergleichsweise kaum jemand die aushängenden gelben oder weißen Fahrpläne liest. Gemessen daran, wie viele Leute die Digitalanzeigen nutzen oder schon informiert sind, interessiert sich heutzutage nur ein kleiner Prozentsatz für die Aushangfahrpläne. Dazu kommt, dass der geneigte Reisende mit der Zeit den Plan auswendig im Kopf hat, insbesondere, wenn sich die Ankunftszeiten in einer kontinuierlichen Taktfrequenz befinden und somit leicht zu merken sind.
So musste ich oft lange Zeit warten, bis sich irgendjemand zu den Plänen bequemte, um sich die Zeiten etwas genauer anzusehen. An einem kleineren Bahnhof in Karlsruhe-Durlach stand ich geschlagene 20 Minuten und wartete vergeblich. Somit entschied ich mich, nur noch am Hauptbahnhof Karlsruhe zu fotografieren. Dieser ist stets mit vielen Reisenden und Reisegruppen gefüllt, was mir die Durchführung des Projektes ermöglichte.
Dort fiel mir sofort auf, dass es fast keine jungen Menschen zu den Plänen verschlägt. Hauptsächlich alte Leute, Reisende mit viel Gepäck oder Menschen aus anderen Kulturen hielten sich vor den Bannern auf. Einige nur kurz, andere geschlagene 30 Minuten. Was mir wiederum die Zeit gab, um die Menschen beim Studieren aufzunehmen.
Je länger ich drüber nachdachte und fotografierte, desto interessanter fand ich die Pläne. Sie sind in großer Schrift gesetzt, verleihen einen sofortigen Überblick über Abfahrtszeiten und sind zig Mal größer als die kleinen Smartphones, die nur einen kleinen Ausschnitt aller Fahrtzeiten anzeigen.
Außerdem liefern sie eine ganze Menge Zusatzinformationen: Zugnummer, Fahrtrichtung, Verkehrstage, Zugart und mit den weißen Aushangplänen auch die (planmäßige) Ankunftszeit. Die beigefügten Symbole und Fußnoten werden in einer Legende erklärt und zeigen beispielsweise tagesbezogene Abweichungen des Planes oder Reservierpflichten an.
Aushangfahrpläne auf Papier haben aber auch Nachteile: Fallen einmal Züge aus, so ist dies nicht erkennbar und die Flexibilität liegt gleich bei null. Zusatzblätter hängen eigentlich immer daneben, wobei diese meiner Beobachtung nach nicht registriert werden. Gibt es beispielsweise eine Verspätung oder gar einen Gleiswechsel, können Nichtsahnende (oder Schwerhörige, die die Bahnhofdurchsagen nicht registrieren), gut und gern den Zug verpassen.
Einige Reisende benutzten kein Smartphone oder Handy, hatten Hütchen auf dem Kopf, feine Blusen an, waren mit dem Hund als Partner unterwegs und sahen oft auf ihre Armbanduhr, die stets im Wechsel zum Planlesen überprüft wurde. Es waren Menschen, die sich die Zeit nahmen, sich einen Überblick zu verschaffen und dem genauen Studium der Pläne auch Erstere gaben.
Von technisch-fotografischer Seite sprechen die Fotos eine recht deutliche Sprache. Da die Möglichkeiten des iPhones vergleichsweise begrenzt sind, versuchte ich mich an verschiedenen Perspektiven und interessanten Situationen. Dabei war es mir nicht wichtig, möglichst beeindruckende Aufnahmen zu erstellen, sondern relativ nüchtern zu dokumentieren, was passiert. Kein großes Tamtam, sondern zeigen, was ist. Das war die Devise.
Da ich nicht von der anderen Seite durch den Plan fotografieren konnte, haben die Fotos eines gemeinsam: Die meisten Leute sind von hinten zu sehen und Gesichter recht selten – bis auf eine Ausnahme, die auch in dieser Serie aus dem Rahmen fällt, da sie eine situationskomische Sprache spricht.
Für mich war es jedenfalls eine wunderbare Zeit, mich einmal diesem Phänomen über längere Zeit zu widmen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es die gelben und weißen Fahrpläne in naher Zukunft nicht mehr geben wird. Also wollte ich sie festhalten und ich bin gespannt, wie es mir in 30 Jahren gehen wird, wenn ich zurück auf diese Bilder sehen werde.
Jedoch bin ich mir der Ausschnitthaftigkeit meines Projektes bewusst. Mittlerweile habe ich mitbekommen, dass das Verhalten der Leute an anderen Bahnhöfen sehr von dem in Karlsruhe abweicht – was in der Natur das Sache liegt.