Weil wir sind, bin ich
„Ich möchte Gefühle sichtbar machen, die der Masse nicht mehr präsent sind.“
– Autor unbekannt
Ich habe schon weit über hundert verschiedene Menschen fotografiert. Sehe verschiedene Gesichter, die alle unterschiedliche Geschichten erzählen. Das Schönste an meiner Arbeit ist, dass ich die Menschen nie oberflächlich kennenlerne. Denn ich halte mit meinen Bildern einen Augenblick fest, in dem sie ganz sie selbst sind. Die meisten Menschen, die zu mir kommen, möchten, dass schöne, natürliche Bilder entstehen, die eine gewisse Leichtigkeit haben. Mit Anne ist das anders.
Ich kenne Anne fast mein halbes Leben. Die Intensität unserer Verbindung ist die wichtigste Grundlage für unsere Bilder. Wir vertrauen uns blind, sind in der Liebe wie im Zorn grenzenlos leidenschaftlich, emotional stets flexibel und absolut auf einer Wellenlänge. Das macht vieles einfacher.
Ich fotografiere Anne anders als andere Menschen. Bei unseren Shootings ist alles echt. Es gibt keine Erwartungen, keine vorher groß geplanten Szenen; wir planen keine Outfits, Locations oder bestimmten Posen. Nein, im Gegenteil: Es entsteht alles aus einem Gefühl heraus und mit Leichtigkeit. Ich beobachte sie und versuche, die kleinen Momente in diesem Zeitfenster festzuhalten. Dann, wenn ich das Gefühl habe, ihre in sich ambivalente und doch so klare Persönlichkeit zu sehen.
Anne fällt auf. Nicht allein durch ihre Wandelbarkeit oder ihre unnahbare Schönheit. Nein, vor allem aufgrund ihrer Narben. Nicht aber für mich. Wir haben das nie als Problem gesehen. Obwohl sich die Thematisierung der Selbstverletzung in der Öffentlichkeit noch immer als sehr schwierig herausstellt, da der Grat zwischen einer abschreckenden, plakativen und einer sensiblen, ästhetisch Darstellung nur sehr schmal ist, sieht sich Anne nicht als Opfer ihrer Umstände.
Die Serie entstand spontan in einer Zeit, in der sich in unserem Leben einiges veränderte. Eine Zeit, in der sich so manche Tür schloss, damit sich eine neue öffnen konnte. Es war ein Mittwochnachmittag und es regnete eigentlich durchgängig. Zusammen mit Alexander, einem Freund von Anne, entwickelten sich die Bilder ganz ohne Konzept oder strikte Anweisungen.
Einfach aus dem Moment heraus. Denn als ich die Kamera in die Hand nahm, waren wir uns alle noch nicht wirklich klar darüber, was für ein Ergebnis wir erzielen wollten. Wir begannen mit ein paar emotionalen Aufnahmen an einem stillgelegten Bahnsteig, der Gott sei Dank überdacht war. Es war etwas Neues für uns. Für Alexander sowieso. Aber auch für Anne war es das erste Shooting mit einem männlichen Modell an ihrer Seite.
Und ich kannte bis jetzt auch eher nur die „fröhlichen, natürlichen“ Pärchenshootings. Die ersten 15 Aufnahmen sind eigentlich immer die unbrauchbarsten. Man muss sich erst an die neue Situation gewöhnen und sich „reinfühlen“. Aber Alexander hat das auf Anhieb wirklich super umgesetzt.
Er verstand sofort, in welche Richtung die Bilder gehen sollten und was mein Stil ist. Wir hatten uns vorher schon abgesprochen, dass die Bilder eher trashig werden sollten. Auf alle Fälle kälter, härter, emotionaler. Nicht die positive Verbindung oder gar Liebe zwischen zwei Menschen in den Vordergrund zu stellen, das wäre zu trivial… nein, eher die kühleren Augenblicke einzufangen.
Nachdem sich der Regen etwas gelegt hatte, fuhren wir zu einem anderen Ort, an dem alte Omnibusse standen, die schon ziemlich von der Natur vereinnahmt wurden, jedoch noch betretbar sind. Dort entschieden wir uns, ein paar „intensivere“, freizügigere Aufnahmen zu machen.
Dies entstand einfach aus dem Moment heraus, den wir durch mehr Haut noch provokanter und doch auch sinnlicher darstellen wollten. Die Nacktheit ist heutzutage vielleicht auch nicht mehr das, was sie einmal war, trotzdem verleiht sie dem Betrachter eine gewisse Nähe und einen Einblick in die Intimsphäre. Ich bin überhaupt kein Fan von klassischer Aktfotografie.
Ich mag das Offensichtliche nicht, zeige nicht gern einfach nur Brüste. Für mich muss es immer ein Kopfkino sein. Dass es dem Betrachter noch einen Reiz lässt und man trotzdem das Gefühl hat, nah zu sein. Zudem hätten wir Euch mit T-Shirt all die tollen Tattoos von Alexander vorenthalten müssen.
In der gesamten Serie habe ich gezielt die beiden sich mit sich selbst beschäftigen lassen, um ungestellte und echte Momente einzufangen. Ich mag es mehr, Menschen mit meiner Kamera zu beobachten, anstatt sie zu inszinieren. Mein Highlight der Serie entstand spontan in den letzten Minuten.
Ich weiß noch, dass ich meinen Schal über meine Kamera legte, damit sie nicht nass wurde. Durch die vielen Tätowierungen von Alexander haben wir uns schließlich für eine Schwarzweiß-Serie entschieden, da die Farbe der Tattoos zu viel Unruhe in die Bilder brachte.
Dies ist eins der Bilder, bei denen ich mich sehr erschrocken hatte, als ich mit der Bearbeitung fertig war. Ich schaute es an und es löste sofort eine Emotion in mir aus, die ich zum Zeitpunkt der Aufnahme gar nicht beabsichtigte, auszudrücken.
Anne und ich wollen den Menschen einen Moment der Wahrheit und Aufrichtigkeit schenken. Einen Moment, in dem man kurz innehält und Emotionen zulässt, die jeder von uns in sich trägt.