16. Dezember 2011 Lesezeit: ~10 Minuten

100 Tage in einem unbekannten Land

Es ist Mittwoch, der 9. November 2011 und ich stehe an der Bushaltestelle Mitte in der Ortschaft Affoldern, Hessen. Auf meinem Rücken habe ich einen Rucksack, der neben der üblichen Trekkingausstattung auch mit meiner Kamera-Ausrüstung und einem Laptop gefüllt ist. In meiner linken Hand halte ich eine Leine, an deren Ende mich die Augen meines treuen Begleiters Aiko, einem fünfjährigen Husky, anschauen.

Die letzten Schritte unserer 100-tägigen Reise zu Fuß durch Deutschland sind gegangen. Allein 1.200 Kilometer und 43.000 Höhenmeter zeigt das GPS für die Wandertouren an. Dazu kommt sicherlich noch einmal die Hälfte an Kilometern für die Erkundungstouren und Spaziergänge durch die einzelnen Städte.

In mir mischt sich ein Cocktail aus Gefühlen zusammen. Vorfreude auf zu Hause trifft auf Wehmut. Den Geschmack definiert aber die unendliche Zufriedenheit über einhundert herrliche, anstrengende, erlebnisreiche und beeindruckende Tage.

Unseren etwas längeren Spaziergang, dessen Eckpfeiler die landschaftlichen und kulinarischen Schätze unserer Heimat waren, starteten wir am geografischen Mittelpunkt von Deutschland in Niederdorla. Es war einer der wenigen sonnigen und heißen Tage im Juli.

Neben dem Wunsch der Belohnung für zehn Jahre Arbeit, der Vorfreude auf spannende und fordernde Wander- und Bergtouren, hatte ich auch viele Fragen und Fotoideen zu den mir unbekannten Teilen meines Heimatlandes im Gepäck.

Da man so eine Reise nicht jedes Jahr macht, stand für mich im Vorfeld fest, dass ich die Reise auch in irgendeiner Form dokumentieren wollte. Aus der Vorstellung eines kleinen Blogs wurde ein Projekt vor dem Projekt, was zum großen Teil auch von meinem guten Freund und hochgeschätzten Designer Ulf Germann vorangetrieben wurde.

Im Nachhinein ein kühnes Vorhaben, denn länger als 2,5 Wochen war ich bis dato noch nie gewandert und ich hatte keinen Schimmer, ob ich überhaupt Lust haben würde, jeden Tag das Erlebte in Bildern und Texten festzuhalten. Heute weiß ich, dass das Schreiben und Fotografieren ein wichtiger Teil und Antrieb meiner Reise war.

Sie brachten mich in das Buchenmeer des Hainich Nationalpark, in die wildromantische Fränkische Schweiz, in das beschauliche Altmühltal, die Bergwelt der Alpen, zum abwechslungsreichen Schluchtensteig im Schwarzwald, auf den aussichtsreichen Sagenweg im Dahner Felsenland und den genussvollen Pfälzer Weinsteig, um nur einige der Etappen zu nennen.


Traumhaftes Wetter zum Start unserer Reise


Gratwanderung zwischen Herzogstand und Heimgarten in Oberbayern

Trotz der kaum greifbaren Fülle an Wegen und Erlebnissen gab es einige Momente meiner Reise, deren Bilder ich sofort vor meinem inneren Auge sehe. Zum Beispiel war die Donau für mich immer ein breiter, dreckiger und von Schiffen übersäter Fluss.

Am Donaudurchbruch zwischen Kelheim und dem Kloster Weltenburg schwamm ich dann mit Aiko und meinem Vater, der zu Besuch war, bei traumhaftem Wetter in kristallklarem Wasser. Danach genossen wir im Biergarten der ältesten Klosterbrauerei der Welt ein herrlich süffiges, dunkles Bier.

Schmunzeln muss ich auch heute über den ersten Tag im Bayerischen Wald. Wie so oft siegte der Drang nach einem Foto über den inneren Schweinehund und die Höhenmeter. Wieder einmal machte ich mich vor Sonnenaufgang auf den Weg. Meine Reise war noch nicht alt und der düstere Wald projizierte mir einige dunkle Gestalten in mein Sichtfeld.

Auf dem Gipfel erwartete mich eine Wand aus Nebel und der Sonnenaufgang über den Wolken blieb unerfüllt. Erst fluchte ich, dann musste ich lachen. Ich mag die Abhängigkeit von der Natur und das Erarbeiten bzw. Erwandern der Motive.

Unvergesslich sind auch die Anstiege in den Alpen. Meter um Meter ging es für mich bergauf und für den Schweiß bergab. Es gab zwar keine Grenzerfahrungen wie auf einigen Reisen in Norwegen, aber auch auf dieser Reise konnte ich das Gefühl der körperlichen Erschöpfung genießen. Ich liebe dieses Gefühl. Danach ein erfrischendes Getränk und den Fernblick genießen – ein perfekter Tag.


Donaudurchbruch zwischen Kelheim und dem Kloster Weltenburg


Titisee im Morgennebel, Schwarzwald

Aber auch wenn die Bedingungen auf dem Gipfel perfekt waren, blieb die Kamera manchmal in der Tasche. Ohne Sucher vor dem Auge hielt ich das Bild für mich fest. Ich verzichtete auf die Nullen und Einsen auf der Speicherkarte und es fühlte sich nicht nur in diesem Moment sehr gut an.

Auch in Sachen Kameraausrüstung ging ich für mich persönlich neue Wege. Reiste und fotografierte ich in der Vergangenheit immer mit einer DSLR und einer Messsucherkamera, um das Beste aus beiden Welten haben zu können, blieb dieses Mal die DSLR samt schwerem Stativ, der Filterpalette von Lee, dem Fernauslöser etc. zu Hause.

Kein Makro- und kein Teleobjektiv, lediglich der Brennweitenbereich von 25 bis 90mm waren für die hauptsächlich angestrebte Natur- und Landschaftsfotografie schon eine Form der Limitierung.


Wasserlauf am Höllbachgsprengweg im Bayerischen Wald


Ein Blatt schwimmt auf der Wutach im Schwarzwald

Anfänglich stellte ich die Entscheidung oft in Frage und es brauchte einige Zeit, bis aus dem Arrangieren wahre Begeisterung und Liebe wurde. Sie beflügelte auch die schwierigste fotografische Herausforderung der Reise. Meine persönlichen Eindrücke und meine Art der Reise sollten die Bilder erzählen.

Ich wollte nicht weitere Kopien der bekannten und bereits tausendfach abgelichteten deutschen Sehenswürdigkeit à la Schloss Neuschwanstein, Wartburg in Eisenach oder das goldene Gipfelkreuz der Zugspitze mit nach Hause bringen. Weder hatte ich dafür das passende Werkzeug dabei, noch die Zeit, Stunden oder sogar Tage auf die perfekte Lichtstimmung zu warten. In der Regel drückte ich an diesen Orten auch kaum auf den Auslöser.


Aiko vor dem Bachhaus in Eisenach

Vielmehr legte ich mir den kleinen Zwang auf, dass ich oft eine Rast abseits der bekannten Plätze einlegte und probierte, dort kwerfeldein die Unberührtheit und Stille dieser oft unscheinbaren Orte einzufangen.

Einer dieser Orte war die Lillach. Wie immer in deutschen Reiseführern beeindruckend beschrieben, war ich zuerst nicht wirklich entzückt. Aber ich nahm mir die Zeit und ließ den Ort auf mich wirken. Aiko möchte zu Protokoll geben, dass es sich wie Stunden angefühlt hat.

Auf einmal entdeckte ich aber in den kleinsten Ecken spannende Motive. Der Ort zog mich in seinen Bann. Sich die Muße nehmen und einfach mal die Natur zu beobachten, machte immer wieder Freude, schulte meine Wahrnehmung und manchmal entstanden dabei auch schöne Fotos.


Die Quelle der Lillach, Franken


Herrliche Pfade entlang der Lillach, Franken


Aiko an einem Ruhetag im Altmühltal

Ich bewahre mir die Fotografie seit Jahren als Hobby. Eigentlich fotografiere ich nur an der frischen Luft und es ist inzwischen eine Art Entspannung und Meditation für mich. Dem Gefühl der Erholung steht die Zeit für die Auswahl und Aufbereitung der Bilder gegenüber. Sie macht mir seit jeher nicht sonderlich viel Spaß und so war ich gespannt, wie das auf der Reise sein würde.

Der anfängliche Respekt legte sich ein wenig, nachdem ich mir ein Regelwerk zur Katalogisierung und Bearbeitung in Lightroom definiert hatte. Sehr schwierig fand ich weiterhin die finale Bildauswahl für den Blog. Neben den rein formalen Vorgaben wie Größe und Format der Bilder war die finale Bildauswahl meist ein diffiziler Prozess.


Stammplatz am Chiemsee

Mal sollten die Fotos die Geschichte unterstützten, mal durften sie losgelöst als Solitär erscheinen, mal erfuhren sie ihre ganze Ausdrucksstärke erst durch die passende Bildunterschrift.

Da die Orte, Personen und das Erlebte in den Reiseberichten oft sehr unterschiedlich waren, gab es auch kein Patentrezept und so suchte ich für jeden Artikel das passende Ensemble aus Text und Bild neu. Aber auch dabei lernte ich einen neuen Aspekt kennen.

Vorher entstanden Bilder bei mir im Kopf oder die aktuelle Umgebung war der Ideengeber für das Foto. Während der einhundert Tage waren es aber auch oft Wörter und Texte vor meinem inneren Auge, die den Auslöser für ein Foto drückten.


Selbstportrait in der Nähe des Albrecht-Dürer-Hauses in Nürnberg

Mit diesen vielen Erfahrungen steige ich in den Bus ein, der mich über Kassel wieder nach Hause bringen wird.

Ein Gefühl der unendlichen Glücklichkeit breitet sich in mir aus, dass ich den Mut für diese Reise hatte. Die Fülle an Eindrücken der vielen Momente und Gespräche sind kaum zu greifen, aber ich merke, dass es in mir arbeitet und sich ein vielschichtigeres Bild der landschaftlichen, kulinarischen und auch kulturellen Schätze meines Heimatlandes formt. Ein Bild, bei dem Vorurteile, die sich über die Jahre in der Ferne aufgebaut hatten, durch die Reise in Luft auflösen.

Aber es entstanden und entstehen neue Meinungsbilder, die ihren Platz bis zum nächsten Besuch beanspruchen und ich kann es kaum erwarten, wieder meinen Rucksack zu packen, um zu reisen, zu lernen und zu leben.


Ein Sommerabend im September am Ammersee


Mein Rad, meine Brücke, mein Dorf


Dancehall in Berchtesgaden

Die begleitende Webseite erhielt ihren Feinschliff während der Reise und auch die erste Hälfte meiner Erlebnisse schrieb ich bereits von unterwegs und habe sie auf http://100tage.jensfranke.com veröffentlicht.

Making-Of


Perfekter Ort für die Schreibmaschine


Livegang der Webseite während der Reise

Den zweiten Teil habe ich mir für zu Hause aufgehoben, um in Gedanken noch ein wenig zu reisen und würde mich freuen, wenn Ihr virtuell ein Stück mit mir wandert. Vielleicht kann ich Euch noch ein paar unbekannte Ecken von Deutschland vorstellen.

[Tipp aus der Redaktion: Wer an Hintergrundinformationen zu Jens‘ Reise interessiert ist, kann sich gerne das Gespräch mit Martin ansehen.]

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