16. Juni 2011 Lesezeit: ~8 Minuten

5 Schritte, bevor ich auf den Auslöser drücke

Mein Name ist Thomas Leuthard, ich wohne in der Schweiz und fotografiere seit zwei Jahren intensiv auf der Straße. Angefangen hat alles damit, dass ich 2008 zu den Olympischen Sommerspielen in Peking war. Dort haben mich das Leben auf der Straße und die vielen unterschiedlichen Gesichter extrem fasziniert und wohl auch geprägt. Damals war ich noch mit einer 18x-Superzoom-Kamera unterwegs und habe dementsprechend oft gezoomt.

Heute gehe ich mit meiner Nikon D7000 und einem 50mm-Objektiv viel näher ran und fotografiere ungefragt fremde Leute sehr direkt. Ich mag aber auch ganze Szenen, in denen die Menschen einer Situation ins Bild passen bzw. eine Geschichte erzählen. Auf der Straße zu fotografien ist extrem vielseitig, jedes Mal ist es wieder anders und aufs Neue herausfordernd…

1. Einen Plan haben

Wie im richtigen Leben geht mir auch in der Straßenfotografie alles einfacher von der Hand, wenn ich weiß, wohin ich will bzw. was genau ich fotografieren möchte. Ohne einen Plan weiß mein Auge nicht, wonach es Ausschau halten soll. Ich denke mir oft eine einfache Liste mit Anforderungen aus, die beschreibt, was und wie ich fotografieren möchte. Hier ein Beispiel, das ich mal gemacht habe:

Nur Tüten
Ausschnitt
Gleiche Brennweite (z.B. 85mm)
Gleiche Blende (z.B. f/4)
Querformat
Schwarzweiß
Eine Serie aus 10 Bildern
60 Minuten Zeit

Die Zeitvorgabe finde ich auch sehr wichtig, denn ohne Zeitlimit tendiert der Mensch zur Faulheit. Oder habt ihr schon mal besser gearbeitet, als ihr nicht unter Zeitdruck gestanden habt?

Ich suche mir interessante und ausgefallene Ideen in Zeitschriften, schaue mir die Bilder anderer Leute an oder stehe einfach mal auf der Straße herum und schaue, was die Leute so machen, was sie tragen und wie sie sich verhalten. Plötzlich sehe ich Dinge, die ich in einer Serie dokumentieren könnte. Mir half es am Anfang, eine Farbe, ein Körperteil oder ein Accessoire zu wählen und eine Serie daraus zu machen. Ein solider Plan war immer der Anfang eines guten Straßenfotos…

2. Lernen zu sehen

Nachdem ich meinen Plan erstellt habe, gehe ich raus und schaue mich auf der Straße nach meinem Zielobjekt um. Ich stelle immer wieder fest, dass ich plötzlich nur noch die Dinge sehe, die ich mir vorgenommen habe. Auf einmal sehe ich eine Vielfalt an Tüten, die ich vorher nie beachtet habe.

Ich lerne immer wieder Leute kennen, die sich mehrheitlich mit der Technik auseinandersetzten. Diese Leute sehen dann jeweils „nichts“. Ich bin der Meinung, dass das Sehen viel wichtiger ist als die Bedienung der Kamera. Denn wenn ich etwas nicht sehe, kann ich es auch nicht festhalten, egal wie gut ich die Kamera beherrsche.

Man kann auch ohne Kamera das Sehen trainieren. In der Bahn, im Bus, im Auto, überall kann man beobachten, nach Dingen suchen und sie, wenn auch nur virtuell im Kopf, festhalten. Dadurch halte ich mein Auge in Form. Denn das Auge ist das Wichtigste in der Fotografie…

3. Licht

Ohne Licht geht nichts in der in der Fotografie. Auf der Straße kann man das Licht nicht beeinflussen oder steuern. Ich kann nur den Zeitpunkt wählen, wann ich zum Fotografieren rausgehe. Hier ein paar Lichtsituationen und meine Meinung dazu, die helfen kann, den besten Zeitpunkt zu wählen:

Sonnig = schwierig
Regen = nicht so toll zum Rausgehen
Neblig / bewölkt = perfekt
Nacht = speziell

Wenn ich auf einfachste Weise gute Bilder machen möchte, gehe ich dann raus, wenn die Sonne nicht (mehr) scheint. Direkte Sonne sorgt für sehr harte Kontraste, die weder für die Kamera noch für mich einfach sind. Also gehe ich entweder am frühen Morgen, am späten Abend oder bei bewölktem Himmel auf die Straße.

Ich mag es am liebsten, wenn es bei uns neblig ist. Dann ist es immer in etwa gleich hell und meine Kamera hat keine Probleme, richtig zu belichten. Ferner agiert der Nebel wie eine große Softbox und alle Portraits werden mit weichem Licht ausgeleuchtet, was ich als sehr angenehm empfinde.

Wenn ich Gesichter sehen will, dann stelle ich mich beim Fotografieren mit der Sonne im Rücken (Portraits). Wenn ich Formen sehen will, dann stelle ich mich mit der Sonne im Gesicht (Silhouetten).

Licht ist sehr vielseitig. Ich versuche, jeweils spielerisch damit umzugehen und probiere verschiedene Dinge aus. Wenn die Sonne zu stark scheint, versuche ich, aus den Schatten oder dem Gegenlicht etwas zu machen. Dafür ist die direkte Sonne natürlich mehr als geeignet. Je mehr ich über Licht gelernt habe, umso einfacher wurde es, Objekte richtig belichtet festzuhalten.

4. Bildgestaltung

Für mich macht die Bildgestaltung über die Hälfte eines guten Fotos aus. Sie macht den großen Unterschied zwischen mir und der Masse. Wenn ich 100 Leuten eine Kamera in die Hand gebe und sie beauftrage, von einem Objekt ein Foto zu machen, so würden es wohl 99 von ihnen ziemlich gleich machen.

Genau hier kann ich einen Unterschied erreichen: Ich versuche oft, einen interessanten Standpunkt und eine außergewöhnliche Perspektive zu wählen. Ich vermeide es, aus 1,70m zu fotografieren, denn das ist die Perspektive, die wir täglich sehen. Und alles, was wir täglich sehen, wirkt langweilig.

Ich versuche häufig auch, Bilder extrem zu gestalten, indem ich das Objekt weit am Bildrand positioniere und so 90% des Bildes nichts zeigt. Auch den Fokuspunkt kann man an Orten positionieren, an denen man ihn nicht erwartet. Ich kann jedem nur empfehlen, alles über den goldenen Schnitt, die Drittel-Regel und Schärfentiefe zu lernen und damit zu spielen.

Denn vor allem mit der Bildgestaltung kann man ein Bild interessanter gestalten.
Kurz gesagt: „Man kann ein gutes Foto von einem langweiligen Objekt machen, aber man kann auch ein langweiliges Foto von einem interessanten Objekt machen.“

5. Kamera-Einstellungen

Die Einstellungen der Kamera werden überschätzt. Ich empfehle den Leuten, für die es neu ist, auf der Straße zu fotografieren, die Kamera auf P zu stellen und ohne groß nachzudenken, abzudrücken. Oder sieht man auf dem Foto, dass alle Einstellungen manuell gemacht wurden? Geht kein großes Risiko ein und lasst die Kamera belichten. So einfach ist Straßenfotografie…

Allgemeines

Straßenfotografie geht noch viel weiter und ich kann nicht alles mit so wenigen Worten erklären. Ich werde oft gefragt, wie ich so nah an die Leute rankomme und ob ich sie vorher frage. Das mit dem Nahrangehen ist Übungssache. Das mit dem Fragen lasse ich bewusst sein, weil sie nicht authentisch schauen, wenn ich vorher frage und ich vielleicht ein Bild löschen muss, wenn ich nachher frage. Also frage ich erst gar nicht.

Dass das ein rechtliches Problem ist, steht auf einem anderen Blatt. Ich hatte bis jetzt noch keine Probleme damit. Manchmal spricht mich jemand auf der Straße an und möchte, dass ich ein Bild lösche, dann lösche ich umgehend. Ich veröffentliche meine Bilder bei flickr!, in der Fotocommunity, bei 500px und teilweise auch auf meiner Webseite. Bis jetzt hat sich noch niemand selbst erkannt bzw. sich deshalb bei mir gemeldet. Das Leben findet statt, es posiert nicht…

Update: Dieser Artikel zeigt die Meinung des Autoren. Er ruft nicht dazu auf, es ihm gleich zu tun und jeder muss für sich selbst entscheiden, wie er mit dem Thema umgeht.

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