Ziemlich weit bis Flensburg: „Inseljugend“ auf Föhr
Als „Die Insel mit dem besonderen Wohlfühleffekt“, als „friesische Karibik“ vermarktet Föhr seine weißen Sandstrände und seine salzige Seeluft. 82 Quadratkilometer inmitten des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, die Urlauber*innen zum Abschalten locken. Doch was macht die Jugend auf der Insel? Was machen junge Menschen auf einem Eiland mit 16 Inseldörfern, das keine Landverbindung hat?
Eine Fähre gibt es, immerhin. Die legt im Hauptort Wyk ab. Von da sind es 50 Minuten bis zum „Kontinent“, bis Dagebüll in Nordfriesland. Und von dort noch einmal so lange bis nach Flensburg. Ziemlich weit ist es, bis nach Flensburg.
Im 2009 eröffneten Museum Kunst der Westküste in Alkersum auf Föhr, das sich stets dem Meer und der Küste widmet, ist nun eine schlicht vor weißen Wänden präsentierte Ausstellung zu sehen, die diese Frage stellt – diese Fragen nach Heimat, nach Zugehörigkeit, nach Zusammenhalt.
Der bei Düsseldorf lebende Fotograf Andreas Jorns hat seine Bilder im Rahmen eines Artist-in-Residence-Aufenthalts der Ausstellungsreihe „Made on Föhr“ aufgenommen. 55 der im Winter 2019 auf 2020 entstandenen Portraits zeigt die Schau – die Portraitierten kommen in Zitaten zu Wort: „Heimat kann auch wie ein Hafen sein“, sagt eine 17-jährige Schülerin.
Die Farb- und Schwarzweißbilder führen uns vor Augen, dass die Insel offenbar kein schlechter Ort zum Leben ist. Fynn spielt Schlagzeug am Strand. Anna und Anni sind mit ihren Pferden unterwegs. Jark wird den bäuerlichen Betrieb übernehmen. Jule trägt eine friesische Tracht – nur Louisa blickt sehnsuchtsvoll in die Weite. Wird sie die Insel verlassen?
Immer wieder haben Fotograf*innen versucht, ein Bild der Jugend zu zeichnen. Denken wir etwa an die Portraits von Tobias Zielony, der Jugendliche in aller Welt fotografiert hat – vorwiegend jene, die an den Rändern urbaner Zentren leben. In den Vororten, den Banlieues, in Suburbia. Ganze Gruppen von Jugendlichen auf der Straße, auf Parkplätzen, vor ihren Wohnblocks in Newport, Halle-Neustadt, Chemnitz, Winnipeg, Bristol, in der kalifornischen Wüstenstadt Trona oder in den Quartiers Nord von Marseille.
Sie tun nicht viel, die Portraitierten von Zielony. Sie stehen oder sitzen herum, treffen sich an Tankstellen oder einfach unter einer Straßenlaterne. Mal blicken sie gedankenverloren in die Leere, dann posieren sie für den Fotografen, präsentieren ihre Gruppenzugehörigkeit.
Ganz anders die Jugend von Föhr: Hier ist vor allem Begeisterung, Engagement, Aktivität zu sehen! Selten einmal verrutscht hier ein Lächeln. Selten einmal blickt man in den Abgrund der Adoleszenz, sieht man Vereinzelung.
Bevor ihn das Museum Kunst der Westküste als Artist-in-Residence einlud, war Andreas Jorns noch nie auf Föhr. Und ganz so einfach war es am Anfang wohl nicht, mit den Jugendlichen in Kontakt zu treten. Doch das änderte sich schnell, erzählte Jorns in einem Interview:
Ich glaube, dass ein ganz wichtiger Aspekt war, als ich das erste Mal mit den Jugendlichen feiern durfte. Die feiern ja hier in so selbst gebauten Hütten. Da habe ich dann auch ein paar Fotos gemacht. Und das war auch der Moment, wo ich ganz viele von ihnen so richtig kennengelernt habe.
4.000 Bilder von etwa 100 jungen Menschen hat Jorns binnen einiger Wochen auf der Insel gemacht. Er zeigt die Sphären der Schule und der Freizeit, trifft die Jugendlichen im Klassenraum oder bei ihnen zu Hause, bei der Chorprobe, beim Sport oder am Strand.
Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl von Momenten, etwa die Weihnachtsfeier im „Ual Fering Wiartshüs“ und Bilder, die beim Neujahrssegeln entstanden sind. Oder Annika und Wiebke, auf ihren Skateboards in Niblum, in Schwarzweiß mit viel Bewegungsunschärfe fotografiert im November.
Die Bilder werden in der Ausstellung kommentiert von Zitaten der Jugendlichen – ein ganz wichtiger Aspekt, denn so bekommen die Gezeigten auch eine Stimme. Dennoch stellt das fotografische Medium auch in diesem Fall die Frage: Ist es wahr, was wir hier sehen? Was kann die Fotografie? Legt sie den Kern einer Person wirklich bloß? Gibt es eine Authentizität des Subjekts?
Wer nicht nur über die Vor- und Nachteile des jugendlichen Insellebens, sondern vielleicht auch über solche Meta-Fragen sinnieren mag, könnte die Fähre von Dagebüll nach Alkersum nehmen. Man kann diese in der Geschichte der Insel einzigartige Ausstellung aber auch mit viel Freude virtuell sehen: Das Museum Kunst der Westküste bietet auf seiner Webseite einen virtuellen Ausstellungsrundgang an. Zur Ausstellung ist auch ein Buch im Wienand-Verlag erschienen.
Informationen zur Ausstellung
Andreas Jorns: Inseljugend
Zeit: 12. Dezember 2021 – 27. November 2022
Ort: Museum Kunst der Westküste, Hauptstraße 1, 25938 Alkersum/Föhr
Informationen zum Buch
„Inseljugend – Island Youth“ von Andreas Jorns
Sprache: Deutsch, Englisch
Einband: Gebunden
Seiten: 176 Seiten
Maße: 27 x 27 cm
Verlag: Wienand
Preis: 28 €