19. April 2021 Lesezeit: ~9 Minuten

Das halbe Karpfenland – eine Webseite für ein Buch

In diesem Artikel geht es um den Versuch, ein Fotobuch zu erschaffen. Es geht darum, wie ich mich der Aufgabe genähert habe, wie sich die Aufgabe immer wieder verändert hat, was ich bisher gelernt habe – und vor allem darum, die Hoffnung zu nähren, mein Ziel zu erreichen. Es ist ein Experiment.

Rückblickend wirkt die Aneinanderreihung vergangener Ereignisse fast immer vollkommen logisch. „Erst das, dann das und dann DAS – da war doch vollkommen klar, dass DAS dabei herauskommen würde.“

Das ist menschlich. Wir brauchen diese Zusammenhänge, selbst bei mangelhafter Indizienlage. So begreifen wir die Welt. So verwandelt unser Gehirn zwei Lichtpunkte im Dschungel in die Augen eines Raubtiers. So fesseln uns Comics, wenn wir die Lücken zwischen den Panels schließen. Und so entstehen wohl auch Verschwörungsmythen.

Die Webseite „Karpfenland – Portrait einer Kulturlandschaft“ ist so ein Zwischenergebnis.

Sie ist ein Kapitel einer Geschichte, in der „Die Landschaft in mir“ und „Klatschmohn. Klischees. Keine Ahnung.“ wie vollkommen logische Vorboten scheinen, weil – frei nach Derrida – „jede Spur die Spur einer Spur sein muss“ und in der nach dieser Website dann das Buch kommen muss. Oder? Vielleicht. Wie auch immer, eins weiß ich sicher: Damals hatte ich keinen Plan von heute und heute habe ich keinen Plan von morgen.

Aber: „Nicht zu wissen wo es Dich hinführt, ist kein Grund, nicht loszugehen.“ Mit dieser gut eineinhalb Jahre alten Erkenntnis habe ich das Projekt „Karpfenland“ endlich angehen können.

Erste Schritte

Do., 19. Sept. 2019, 17:24, Email an mich selbst. Im Anhang ein Konzeptpapier.

Auszüge aus dem Konzept

Karpfenland – Ein Fotoessay
Die Story: Ein Sonntag im Karpfenland

Vignettenhaft, aber seriell, erzählt das Buch vom spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die bäuerliche, kleinstrukturierte Kulturlandschaft ist dabei Sinnbild und Bühne für Konflikte. Eine Grauzone, in der Gestern, Heute und Morgen, menschlicher Verstand und animalisches Treiben, systematische Schöpfung und organisches Wachstum, Körper und Seele aufeinanderprallen – und sich gegenseitig die Frage stellen: Wer prägt mehr?

Ganz so pathetisch ist es übrigens nicht geworden, aber eine zentrale Frage steht bis heute. Die nach der Mensch-Natur-Beziehung, die sich mir in dieser Kulturlandschaft stellt. Überhaupt, gestern habe ich das Konzept nach langer Zeit mal wieder gelesen und ich war überrascht, was überlebt hat. Ich würde es die Essenz nennen, die Idee von einem irgendwie essayistischen Buch. Andere Ideen hingegen waren eher nicht direkt zielführend. Dazu gehört unter anderem die Strategie, erst einmal Motiv-Vorbesichtigungen zu machen.

Zwischenschritte

Ich mache es kurz.

  1. Motive auskundschaften, mit dem Ziel, nicht zu fotografieren, ist hirnrissig. Ich habe so viele verwackelte Handybilder von tollen Motiven gemacht, dass ich damit ein Buch füllen könnte. Hm.
  2. Die Bilder kommen zu Dir, wenn Du bereit für sie bist.Einmal war ich mit meiner Tochter im Wald. So um die Mittagszeit. Der Himmel war bedeckt und aus Niesel wurde Regen. Das weiche Licht, das auf die Lichtungen fiel, war gerade ausreichend, um aus der Hand zu fotografieren. Als die Bilder aus der Entwicklung kamen, wusste ich: Das erste Kapitel des Buches steht.

Kind im Wald fängt Regen mit dem Mund auf

Lichtung im WaldWald

Sammelwut und Ordnungslust

„Heureka. Worauf wartest Du noch? Schaff Dir einen großen Vorrat an hochempfindlichen, stativ-befreienden Filmen an und dann sei so oft es geht im Karpfenland! Alleine, mit Freunden, mit der Familie. Ganz egal. Hauptsache vor Ort und aufnahmebereit!“

Was für ein befreiendes Gefühl.

Eigentlich dachte ich übrigens, der Herbst sei die einzig wahre Jahreszeit für mein Projekt. Aber das war falsch. Vielfalt tat und tut dem Projekt bis heute gut. Ach, und bevor ich’s vergesse: Danke nochmal, Corona. Wegen Dir fiel mein geplanter Urlaub flach. So hatte ich Zeit, eine Woche lang frei durchs Karpfenland zu ziehen.

Um im wuchernden Fundus nicht verloren zu gehen, nutzte ich von Anfang an Google Fotos. An der Supermarktkasse, vorm Einschlafen, jetzt gerade, immer und überall. Ich selektiere, sequenziere, erkenne Muster. Ein bisschen wie eine Mappe mit Ausdrucken, die ich stets bei mir habe. Einerseits, um die Bilder zu verinnerlichen, andererseits, um sie bei Gelegenheit zu teilen. Für Feedback.

Mit anderen Augen sehen

Je vielfältiger meine Feedback-Quellen wurden, desto größer auch die Erkenntnisgewinne, und desto komplizierter der Umgang damit. Es ist wirklich schwierig, die eigene Vorstellung mit Hilfe äußerer Impulse peu à peu zu schärfen und sie nicht hin und her eiern zu lassen. A sagt so, B sagt so – aber was sagt mir das alles? Denn das ist der Punkt.

Bäume spiegeln sich in einem See

Ein befreundeter Kollege ist zum Beispiel immer an diesem Bild hängen geblieben. Er hat darin Dinge gesehen, die ich nicht gesehen habe. Was, das ist gar nicht so wichtig. Denn viel wichtiger ist die Erkenntnis, die ich nun durch das Schreiben über diese kleine Anekdote gewinne. Mir wird gerade klar, dass ich dieses Bild beiläufig, ja fast unterbewusst, aufgenommen habe.

Eigentlich ging mein Blick damals in die entgegengesetzte Richtung. Ich wollte ein gut geplantes Bild machen. Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund? Check. Verbindendes Element und subtile Blickführung gemäß goldener Spirale? Check. Perfekt. Jetzt fehlt mir noch der einsame Wanderer in der Ferne. Ah, da kommt er schon! Und nach nur knapp einer halben Stunde Warten, mit viel Denken und Justieren, drücke ich ab! Top, das Bild hab ich im Kasten. Okay, auf zum nächsten Motiv.

Beim Verstauen der Kamera drehe ich mich um und sehe da dieses Rorschach-Bild. „Hmm. Ganz nett, oder?“ Aber irgendetwas muss meine Aufmerksamkeit dann doch einen Ticken mehr als normal getriggert haben – das Licht, die Strukturen, die kleine hellgraue Insel am Scheidepunkt, alles zusammen, etwas anderes, vermutlich. Ich habe zumindest einfach aus dem Bauch heraus ausgelöst. Heute ist es eins der Schlüsselmotive. Und es ist nicht allein.

Wald

Dieses Bild ist auch so eine unterbewusste Aufnahme. Es ist Teil der oben gezeigten Serie und entstand im Vorbeigehen. Im Reflex. Eine Reaktion auf ein diffuses Gefühl. Vermutlich wird es das Titelmotiv. Genau wie das Rorschach-Bild habe ich auch dieses Bild erst durch fremde Augen sehen müssen, um darin mehr als das Motiv zu erkennen.

In diesem Fall waren es die Augen eines Kritikers, den ich bezahlt habe, um meine Bildern zu beurteilen. Mir war durchaus bewusst, dass diese gekaufte Kritik niemals vernichtend ausfallen würde, aber sei’s drum. Dieses Feedback hat etwas in mir ausgelöst. Und zwar Motivation.

Screenshot

Screenshot

Your opening image is a fantastic opener; it’s uncanny how you have discovered the fish-like shape in the landscape. […] My only desire is to see more. But by no means is that necessary for a series. It’s only a testament to the strength of the work. I hope I get to see the book you are working on. And I also hope you will create a website to host your work; I was interested in learning more about you and your photography.

Der Gedanke, dass meine „Karpfen-Bilder“ für andere relevant oder schön sein könnten, hat dem Projekt zur richtigen Zeit neue Energie verliehen. Und einen entscheidenden Twist.

Im Netz

„I also hope you will create a website to host your work.“ – Warum eigentlich nicht? Es ist bezahlbar. Und die Werkzeuge sind mittlerweile so gut und einfach, dass ich weder eine Agentur brauche, noch ein Programmierer oder Designer sein muss, um eine schöne Webseite funktionierend ins Netz zu stellen. Also hopp. Gedacht, getan.

Und nun? Eins ist klar. Eine Webseite ist kein Buch.

Das Netz ist schneller. Hier wird nicht geschmökert. Und das Netz ist hochkant. Dreiviertel aller Besucher*innen sehen die Bilder auf ihrem Handy. Das ist kleiner ist als eine Postkarte. Ist das also alles Quatsch? Nein.

Tipp: Man kann im Netz ganz allgemein viel über Fotobücher lernen. Tausend Dank Alec Soth, Daniel Milnor und George Muncey.

  1. Durch die Beschäftigung mit dem Thema kristallisieren sich beispielsweise sukzessive die „guten“ Bilder raus. Auch, welche vielleicht zusammengehören. Also: Erkenntnisse und Ideen kommen mit der Arbeit, nicht umgekehrt.

    Collage aus Waldbildern

  2. Durch die Aufbereitung fällt es mir leichter, mit Menschen aus dem Verlags- und Druckereiwesen zu sprechen, ihnen meine Ideen näher zu bringen. Oder: Egal ob die Form dem Inhalt folgt oder umgekehrt, nur beides zusammen funktioniert.
  3. Durch die Gestaltung der Webseite hat sich der Gedanke des essayistischen Fotobuchs weiterentwickelt. Wohin, das weiß ich auch noch nicht so ganz genau. Aber: Das ist kein Grund, nicht loszugehen.

PS: Das „gut geplante“ und „wohldurchdachte“ Bild ist übrigens nix geworden. Zu verkopft, zu offensichtlich, zu geheimnislos. Das Making-of-Handybild davon hingegen, das gefällt mir tatsächlich ganz gut.

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