29. Januar 2021 Lesezeit: ~11 Minuten

Reise-Akte

„Wie, Du nimmst keine Kamera auf Deine Reisen mit?“, bekomme ich regelmäßig zu hören, wenn ich von einer Reise zurückkomme und wieder keine geilen Fotos im Gepäck habe. „Ich fotografiere keine Landschaften, ich möchte diese Orte mit meinen Augen sehen, nicht durch meine Kamera“, merke ich dann gern an.

Mein Partner Johannes schlug wenige Wochen vor unserer geplanten Reise nach Island vor, dass ich uns beide doch fotografieren könnte. Aber ich wollte uns auch nicht im Stil von Touris in fetten Winterjacken vor einen Wasserfall stellen. Dass wir unsere ersten Selbstportraits nackt aufnahmen, war also eher einer spontanen Idee geschuldet. Gern würden wir behaupten, besonders tiefgründige Absichten gehabt zu haben, aber tatsächlich taten wir es einfach für uns.

Im Grunde genommen sind die Aufnahmen aber gar nicht weit weg von dem, was ich sonst fotografiere. Das sind neben Portraits auch Männerakte, manchmal auch Selbstportraits. Johannes hingegen hatte mit der Fotografie zuvor nichts zu tun.

ein nacktes Paar vor einem vereisten Wasserfall

Auf dem Weg von Reykjavík in die Westfjorde nahmen wir den Umweg über die Halbinsel Snæfellsnes. An einem schneebedeckten Lavafeld hielten wir in einer Parkmulde an und versuchten uns an unserem ersten Selbstportrait. Fünf Minuten später hatte der steife isländische Wind die Kamera bereits einmal kopfüber in den Schnee geweht, der Fernauslöser streikte und meine Motivation hatte sich bei -4 °C verabschiedet.

Ich kann heute nicht mehr sagen, warum wir doch wieder aus dem Auto gestiegen sind und die Kamera erneut aufgebaut haben. Wahrscheinlich eine Mischung aus Ehrgeiz und Sturheit. Ich beschloss kurzerhand, die Aufnahme mit dem Zehn-Sekunden-Selbstauslöser zu machen. Mehr als drei Versuche hatten wir nicht, denn ich musste nach jeder Auslösung mit frierenden Füßen zurück zur Kamera laufen. Ich drückte also auf den Auslöser und hörte den Timer.

Zwei nackte Menschen kauern in einer Winterlandschaft

„Mach schöne Füße. Verdammt. Aua. Mist. Verdeck meine Brüste.“ Was man halt so brüllt, wenn man nur zehn Sekunden Zeit hat, um nackt über ein vereistes Lavafeld zu rennen und irgendwie in eine Position zu finden, die nicht aussieht, als hätte man gerade nur zehn Sekunden Zeit gehabt. Wir waren vielleicht drei Minuten lang textilfrei gewesen, aber der Schnee und der heftige Wind zogen uns die Energie nur so aus den Körpern.

Wieder im Auto angekommen, hatte ich Kälteschmerzen, von denen ich nicht gedacht hatte, dass man sie haben könnte. Danach heizten unsere Körper auf und der erste wichtige Lerneffekt trat ein: Es geht irgendwie, Schmerzen gehen vorbei. So entstand unser erstes Bild. Wohl nicht eines unserer persönlichen Lieblinge, aber ein wichtiges Bild für dieses Projekt, denn es war okay genug, um diese Idee nicht direkt wieder zu verwerfen.

Zwei nackte Menschen liegen auf Steinen in der Landschaft

Mit jedem weiteren Bild lernten wir dazu: Socken, Armbanduhren und Kleinkram im Auto lassen, um beim Anziehen weniger Gefummel zu haben. Alles, was man vorbereiten kann, vorbereiten, bevor man sich auszieht. Klamotten so hinlegen, dass man schnell wieder hineinschlüpfen kann.

Lieber ein paar Sekunden länger frieren, aber dafür daran gedacht haben, den Fernauslöser wirklich zu verstecken. Auch bei einem sicheren Gefühl zwischendurch kontrollieren, ob die Technik funktioniert. Wer zuerst halbwegs angezogen ist, kümmert sich um die Technik.

Die meisten Landschaftsfotograf*innen nehmen sich für ihre Bilder viel Zeit, ihre Kompositionen und Lichtsituationen sind bewusst gewählt. Viele fahren mehrmals zum gleichen Ort und warten auf den Moment, in dem das Licht perfekt ist. Unsere Bilder aber entstehen nebenbei auf dem Weg von A nach B.

Wir können uns in aller Regel weder das Licht noch die genaue Tageszeit aussuchen, sondern müssen mit der Situation so klarkommen, wie sie dann eben ist. Deswegen verstehen wir uns auch nicht als Landschaftsfotograf*innen, denn es geht uns nicht um das perfekte Bild, aufgenommen bei perfektem Licht.

zwei nackte Menschen umarmen sich in einer Landschaft

Wir sitzen in einem Mietwagen, fahren mal mehr und mal weniger planvoll durch die Gegend, genießen unsere Reisen und machen dabei manchmal ein Bild. Wenn es uns irgendwo besonders gut gefällt, halten wir an, steigen aus, machen das Bild und fahren weiter. Aber im Vordergrund steht das Erlebnis der Reise und nicht, von dieser möglichst aufregende Bilder mitzubringen.

Wenn wir unterwegs Spaziergänge oder Wanderungen machen, nehmen wir die Ausrüstung einfach mit. Oft ist es also die gleiche Art von Situation, in der Menschen im Urlaub kurz anhalten und das Handy zücken, um schnell ein Erinnerungsbild aufzunehmen. Da unterscheiden wir uns nicht von anderen Urlaubsgästen.

Für ein Bild müssen mehrere Dinge stimmen: Zunächst einmal müssen wir einen Ort finden, der uns beide anspricht und inspiriert. Außerdem achten wir darauf, dass wir allein sind. Zum einen fühlen wir uns so wohler, zum anderen ist uns aber auch bewusst, dass nicht jeder überraschend zwei nackten Menschen begegnen möchte. Wir versuchen, dahingehend Rücksicht zu nehmen, was auch der Grund dafür ist, warum die Orte auf unseren Bildern selten bekannte Naturattraktionen sind.

Zwei anckte Körper zwischen Felsen

Ein zweiter Faktor ist die Zugänglichkeit: Uns war immer klar, dass wir keine privaten Grundstücke betreten, nicht über Zäune oder Absperrungen klettern und der Natur nicht schaden möchten. Ist ein Bereich aus irgendwelchen Gründen nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, dann machen wir dort kein Bild. Ist eine Situation für uns nicht gut einzuschätzen oder gefährlich, machen wir dort kein Foto.

Ein Isländer erzählte mir, dass man sich im Land nur dann dazu entschließt, Warnschilder oder Absperrungen aufzustellen, wenn es wirklich notwendig ist. Wenn neben einem Geysir also ein Hinweisschild steht, dass man das Wasser nicht anfassen soll, dann nur, weil es schon Leute versucht haben.

Zwei nackte Körper an einem See

Ein dritter Faktor ist eine Parkmöglichkeit: Gerade in Island hat es sich zu einer Unart entwickelt, dass Gäste ihre Autos einfach irgendwo am Fahrbahnrand abstellen. Das kann sehr schnell gefährlich werden, denn das Wetter kann rasant umschlagen, plötzlich aufkommender, dichter Nebel etwa ist keine Seltenheit. So benutzen wir immer öffentliche Parkplätze oder Parkmulden – egal wo.

Als wir aus Island wiederkamen, hatten wir viele Bilder im Gepäck und auch beschlossen, dass dies ein laufendes Projekt, quasi ein neues gemeinsames Hobby werden sollte. Im Sommer 2020 war eine Reise nach Schottland geplant und trotz der weltweiten Pandemie konnten wir das auch maßnahmenkonform verwirklichen. Johannes, der vor unserer Reise nach Island nur einmal kurz vor meiner Kamera gestanden hatte, wurde während der Reise zu einem gleichwertigen Kreativpartner.

Zwei nackte Menschen liegen an einem Ufer vor einer Burg

Immer häufiger hatte er eigene Ideen für Posen und ein gutes Auge für mögliche Aufnahmeorte. Gleichzeitig gibt er mir aber auch den Raum, mich länger mit einem Bildaufbau zu beschäftigen. Ich merke mir meine mangelnde Erfahrung mit der Landschaftsfotografie oft selbst an. Manchmal machen wir ein Bild in zwei Minuten, manchmal in einer halben Stunde und manchmal lassen wir es auch sein.

Glücklicherweise sind wir uns in vielen Grundsätzen einig: So gibt es beispielsweise viele Bilder, in denen wir kein dominanter Bildbestandteil sind. In diesem Punkt spiegeln die Bilder wesentliche Teile unserer Persönlichkeiten wider, denn wir sind eher Menschen, die die Bühne gern anderen überlassen. Und so möchten wir auch eher nur ein Teil der Aufnahmen sein, aber nicht immer im Zentrum stehen. Weiterhin waren wir uns darin einig, dass unsere Akte immer verdeckt sein sollen.

Zwei nackte Körper im Grünen

In Island waren die Wetterumstände und unsere mangelnde Erfahrung das Problem. Schottland hingegen machte es uns leichter: Nicht nur, dass das Wetter deutlich angenehmer war – Regengüsse und Mückenschwärme waren im Vergleich zu -11 °C einfach nicht der Rede wert –, wir waren auch eingespielter geworden, gelassener. Ich konzentrierte mich kaum noch auf Johannes und darauf, was er mit seinem Körper anstellte.

Johannes hatte sich schon länger gewünscht, die Reise-Akte im eigenen Land fortzusetzen, aber ich war damit zunächst nicht sonderlich glücklich, denn nach meinen Reisen der letzten Jahre kam mir Urlaub in Deutschland nicht sonderlich erstrebenswert vor. Aber die Aussicht darauf, im Herbst 2020 nur in unserer Wohnung zu hocken, war für mich das größere Übel.

Unsere Selbstportraits in Deutschland zu fotografieren, entpuppte sich als eine ganz neue Herausforderung: Für die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, die einem Island und Schottland schenken, muss man in Deutschland oft eine ganze Weile wandern. Unser Heimatland ist viel dichter besiedelt und so ist mit einem Bild nicht selten eine mehrstündige Wanderung verbunden. Für uns ein positiver Nebeneffekt.

Zwei anckte Körper liegen aneinander vor einem Wasserfall

Dieses Projekt machen wir in erster Linie für uns und haben uns auch einige Zeit damit gelassen, überhaupt etwas davon zu veröffentlichen. Bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatten wir wenig über mögliche Reaktionen nachgedacht, weil das während der Entstehung für uns gar nicht wichtig gewesen war.

Nachdem wir die Bilder aber erst im engsten Kreis von Familie und Freund*innen gezeigt hatten, waren wir doch neugierig darauf, wie Menschen reagieren, die uns nicht persönlich kennen. Um ehrlich zu sein, sind die Reaktionen unterschiedlich: Es gibt viele Menschen, die die Bilder mögen, aber auch viele, die sich daran stören, dass unsere Körper eventuell keinem gesellschaftlichen Ideal entsprechen.

Ich persönlich denke ja, dass es für unsere Art von Bildern unwichtig ist, wie unsere Körper genau aussehen, denn die Bilder leben nicht davon, dass es zwei perfekte Körper zu betrachten gibt. Ich selbst weiß auf den ersten Blick manchmal nicht genau, ob ich gerade mich oder Johannes anschaue.

Zwei nackte Menschen an einem See liegend

So stelle ich mir gern vor, wie wir an diesem Projekt in verschiedenen Lebensphasen arbeiten werden und wohin es uns noch verschlagen wird. Wenn ich heute von „den Anfängen“ rede, dann meine ich die Bilder aus Island. Ich wünsche mir aber, dass ich irgendwann von „den Anfängen“ rede und damit vielleicht die ersten drei Jahre meine. Dieses Projekt ist für mich nicht daran gebunden, wie wir aktuell aussehen, es ist an uns als Paar gebunden.

Vielleicht werden wir dann dicker sein, unförmiger, grauer, faltiger, mit Sicherheit älter – aber ich denke, dass all das egal sein wird. Denn die Bilder sind für uns ein persönliches Reisetagebuch, ein bildhafter Zeitstrahl unserer gemeinsamen Zeit.

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