Eltern werden, Eltern bleiben
Nachwuchs gilt gemeinhin als Inbegriff glücklicher Beziehungen. Nachvollziehbar also, dass Mama und Papa dem Sprössling das perfekte Nest bauen möchten. Und ein Blick hinein sagt meist mehr aus, als man zunächst vermuten würde. Die US-Amerikanerin Dona Schwartz hat ihre Großformatkamera in diversen Kinderzimmern aufgestellt und darin werdende Eltern und solche, deren älteste Kinder bereits ausgezogen sind, abgelichtet.
Dona, wann, wie und warum ist die Idee zu Deinem Bildband „On the Nest“ entstanden?
Der Einfall kam mir bereits 2008, während ich die Arbeit an meinem ersten Bildband „In the Kitchen“ abschloss. Darin ging es um Teenager, die sich gerade im Übergang zum Erwachsenwerden befinden. Das Projekt war sehr stark an die Situation in meiner eigenen Familie angelehnt. Mit sechs Kindern und zwei Hunden glich der Haushalt dem reinsten Chaos.
Mein Mann und ich waren permanent damit beschäftigt, uns um alles zu kümmern und als es eines Tages besonders anstrengend war, sehnte ich mich plötzlich nach einem Leben als „Empty Nester“, also der Zeit in der Zukunft, wenn alle Kinder aus dem Haus sein würden. Seitdem wollte ich unbedingt diese beiden Einschnitte im elterlichen Leben untersuchen: vor der Ankunft des ersten und nach dem Auszug des letzten Kindes.
Warum genau diese beiden Wendepunkte?
Sie sind besonders spannend, da sie die Persönlichkeit und das Selbstverständnis eines Menschen von Grund auf ändern. Und das, obwohl beide Phasen an sich ja nur vorübergehend und von kurzer Dauer sind. Ich wollte diese Situationen unbedingt festhalten und am besten eigneten sich dafür natürlich die jeweiligen Kinderzimmer.
Sie verraten viel über die emotionalen, sozialen und psychologischen Veränderungen, die bevorstehen – meist deutlich mehr als die physischen Anzeichen einer Schwangerschaft. Die Zimmer dienen oft als Projektionsfläche dieses innerpersönlichen Wandels, den die Betrachter*innen immer wieder ansehen können. Die drei wichtigsten Fragen, die ich anhand des Projekts beantworten wollte, lauteten: Wie vollziehen wir den Übergang von einer zur anderen Identität? Wie sieht dieser Prozess aus? Und wie können uns Fotos dabei helfen, solche bedeutsamen Veränderungen in unserem Leben zu verstehen?
Hast Du Antworten auf diese Fragen gefunden?
Mehrere. Rituale sind besonders wichtig. Genauso bedeutsam ist es, dem*r Erstgeborenen ein Nest zum Wohlfühlen einzurichten, denn durch die Krippe im Kinderzimmer wird die bevorstehende Veränderung konkret und greifbar. Dabei entscheiden die Eltern selbst, was sie brauchen und was nicht, wie das Zuhause für das Baby genau aussehen soll.
All diese einzelnen Entscheidungen tragen ein Paar in Richtung dieser neuen Wirklichkeit: Ich werde Mutter beziehungsweise Vater sein. Das ist bald die eigene Rolle – und sie wird es immer bleiben. Am Gegenpol dieses Spektrums – bei den Empty Nesters – sieht es ganz anders aus. Dort fehlen allgemeingültige Riten, die diesen Übergang verdeutlichen.
Ebenso gibt es keinen exakten Zeitpunkt, ab dem man wirklich ein Empty Nester ist. Stattdessen ändert sich der Rhythmus des täglichen Lebens langsam und stetig und man selbst ist weder die Person, die man vor dem Elternsein war, noch die, als das Kind noch Zuhause lebte. Es wartet eine neue Rolle. Wieder einmal.
Inwieweit unterscheidet sich die Atmosphäre in den Kinderzimmern werdender Eltern von denen bei den Empty Nesters?
Ich fand alle Räume sehr aufschlussreich und bewegend, da sie immer eine Geschichte erzählten, die die Paare selbst womöglich nicht formulieren konnten. Bei werdenden Eltern ging es oft um Hoffnungen und Träume, die sie mit der Geburt ihres ersten Kindes assoziierten. All die Dinge, die sie schon vorher kauften, die Bücher und Spielsachen, die Farben und Dekoartikel, sprachen Bände.
Bei den vereinsamten Kinderzimmern interessierte mich vor allem deren weitere Verwendung: Werden sie der neuen Situation angepasst und zum Gästezimmer, Hobbyraum oder Büro umfunktioniert – oder bleiben sie unberührt und verwandeln sich in eine Art Museum? Oftmals glichen sie archäologischen Ausgrabungsstätten mit diversen kulturellen Artefakten, die eine Menge über die Familiengeschichte, die elterliche Fürsorge und das Aufblühen von jungen Erwachsenen aussagen. Die Aufnahmen der Empty Nesters erzählen Geschichten vom Festhalten, Loslassen und Weitermachen.
Konntest Du in den zahlreichen Räumen, die Du gesehen hast, bestimmte Gemeinsamkeiten feststellen?
Danach zu suchen, war sehr spannend: Welche Dinge kaufen sich werdende Eltern? Was sind ihrer Ansicht nach unverzichtbare Elemente für die Erziehung? Eine Krippe, ein Wickeltisch, ein Mobile oder etwas Dekoratives für das Baby – und die Eltern. Geschlechtsspezifische oder -neutrale (gelb, grün) Wandfarben, Windeln, Kleidung, Kuscheltiere, Bücher. „Goodnight Moon“ (Anm. d. Red.: amerikanisches Kinderbuch von 1947) steht fast überall. Die Erwartungen und Prioritäten der Eltern spiegeln sich alle in den Kinderzimmern wider.
Teilweise fand sich diese Babyeinrichtung auch noch in den verlassenen Räumen der erwachsenen Kinder wieder. Gleichzeitig war faszinierend, was der Nachwuchs mitnimmt und zurücklässt, wenn er das Haus verlässt: Ich sah Musikinstrumente, Bücher, Spielzeug (unter anderem veraltete Musikanlagen, Videospiele und Computer), ausrangierte Klamotten und Kleider vom Abschlussball. In manchen Zimmern gab es bereits eine Veränderung. Meist nahm das Bett eine zentrale Rolle ein: Wenn es verschwunden war oder beispielsweise als Ablage für das zukünftige Büro genutzt wurde, bedeutete das sehr viel.
War es schwierig, an die (werdenden) Eltern heranzukommen und wo hast Du sie gefunden?
Ich verteilte Flyer und schickte Infos über Listen raus, die irgendetwas mit Erziehung und Elternschaft zu tun hatten. Auch Mundpropaganda war hilfreich. Eine Fotosession fädelte ich sogar an der Frischetheke unseres örtlichen Supermarkts ein: Es war gerade Ferienzeit und ich sah, dass eine Frau mit ihrer erwachsenen Tochter, die augenscheinlich zu Besuch war, einkaufen ging. Also erzählte ich beiden von dem Projekt und bekam so die Telefonnummer der Mutter. Rückblickend würde ich sagen, dass ich ein bisschen Charme, etwas Einfallsreichtum und eine Menge Durchhaltevermögen brauchte, um die Paare für das Projekt zu finden.
Wie liefen die eigentlichen Fotosessions dann ab?
Ich traf mich stets mit den Leuten, bevor überhaupt fotografiert werden sollte, erzählte ausführlich über das Projekt und meine Absichten. Wenn sie danach noch immer mitmachen wollten, vereinbarten wir einen Termin für die Aufnahmen.
Das vorzubereiten, dauerte ziemlich lange. Die Bilder entstanden auf Farbnegativfilm (Kodak Portra ) mit einer 4×5-Großformatkamera (Sinar F1). Außerdem kam Studiolicht zum Einsatz. Eh alles genau so aufgebaut war, wie es letztendlich auf den Bildern zu sehen ist, vergingen jeweils etwa drei Stunden. Meist waren die Zimmer auch ziemlich klein – was alles natürlich eher schwieriger machte.
Die Personen posierten etwa 20 bis 30 Minuten vor meiner Kamera. Ihr Outfit wählten sie selbst, ich sagte ihnen lediglich, wo – jedoch nicht wie – sie stehen sollten. Ihre Pose suchten sie sich allein. Das war besonders interessant, schließlich sagt es eine Menge über einen Menschen aus, wie er in einer bestimmten Situation gesehen werden möchte.
Die meisten Eltern haben einen erstaunlich neutralen, fast emotionslosen Gesichtsausdruck. War das Deine Absicht?
Ich bat sie, möglichst natürlich in die Kamera zu schauen. Sie sollten sich entspannen und ganz sie selbst sein. Von jedem Motiv machte ich 20 verschiedene Aufnahmen, sodass ich letztendlich ein Portfolio hatte, aus dem ich wählen konnte.
Trotz dieser neutralen Mimik sind die Bilder voller Emotionen. Wie ist Dir das gelungen?
Während der Aufnahmen haben wir uns über diverse Dinge unterhalten – die Zimmer, die Kinder, dies und das. Außerdem lässt die Langsamkeit der Großformatfotografie genügend Freiraum zum Nachdenken. Vielleicht ist es das, was man in ihren Gesichtern sieht.
Wie lange hast Du am Projekt gearbeitet?
Insgesamt nahm ich 92 Portraits für das Buch auf. Das erste 2006 und das letzte – ein Selbstporträt – im Jahr 2012.
Dieses Selbstportrait entstand 15 Monate nach dem Auszug Eurer ältesten Tochter Lara. Wie war dieser Moment für Dich und Deinen Ehemann?
Wir versprachen einander, ihr Zimmer nicht zu verändern, bis sie den College-Abschluss in der Tasche haben würde. Wie das bei vielen Eltern der Fall ist, warten jedoch oft unvorhersehbare Veränderungen auf einen und so zogen wir schon im Sommer ihres ersten College-Jahres um. Ihr Kinderzimmer gibt es also nicht mehr. Das war ein ganz schön abruptes Ende.
In unserem neuen Zuhause haben wir jetzt einen Raum, in dem viele von Laras Habseligkeiten stehen: einige Sachen im Kleiderschrank, etliche Bücher im Regal. Dennoch ist es nicht wirklich ihr Zimmer und das ist auch allen bewusst. Es macht mich schon etwas traurig. Mir fehlt diese Nähe, die ich zu all meinen Kindern hatte, als ich sie täglich großzog. Es erfüllt mich allerdings auch mit viel Stolz, sie jetzt als selbstständige Erwachsene durchs Leben gehen zu sehen.
Hast Du heute noch Kontakt zu den Eltern aus dem Projekt?
Mit vielen schon. Einmal traf ich zufällig eine der Mütter aus dem Buch und sie erzählte mir, wie sehr sie den Druck schätze, den ich ihr von ihrer Aufnahme geschickt hatte. Sie hatte inzwischen ihr Haus verkauft und somit auch das Kinderzimmer ihrer Tochter. Das Bild ist alles, was ihr davon geblieben ist.
Was nimmst Du für Dich persönlich aus diesem Projekt mit?
Mir wurde noch stärker bewusst, welch unglaublich großer Schritt es ist, ein Kind zu bekommen. Die werdenden Eltern, die ich fotografiert habe, waren voller Hoffnung, Liebe und Unschuld. Diese Momente sind unglaublich wertvoll – auch, weil sie nie wieder zurückkehren.
Zu den Empty Nesters habe ich – da ich selbst einer bin – eine besondere Verbindung. Sie sind weiser, besonnener und etwas melancholisch. Schließlich ist es nicht leicht, diesen langen Lebensabschnitt so einfach hinter sich zu lassen. Vielleicht sollte es eine Art „Eltern-Abschluss-Party“ geben – ähnlich zu den Babypartys vor einer Geburt. Andererseits ist das Elternsein ja auch mit dem Auszug des letzten Kindes nicht vorbei.
Informationen zum Buch
„On the Nest“ von Dona Schwartz
Sprache: Englisch
Einband: Gebunden
Seiten: 108
Maße: 30 x 24,5 cm
Verlag: Kehrer
Preis: 39,90 €