22. November 2017 Lesezeit: ~8 Minuten

Indiens Alltag aus Kindersicht

Seit sieben Jahren fotografieren Kinder in Indien für das Projekt Kamerakidz. Warum? Weil ich wissen wollte, wie sie ihre Welt abbilden. Weil sich meine Annahme bestätigte, dass Kinder gute Fotos machen. Weil ich Bücher und andere Produkte herstellen wollte, die Leute nicht aus Mitleid kaufen, sondern weil sie gut sind. Weil es die Kinder mit Stolz erfüllt. Weil ich nie müde werde, die einzelnen Speicherkarten durchzuschauen. Weil es noch viel mehr „weils“ gibt.

Dearest Mrs. Mam Nana. Realy. I like take a photo about lifestyle in Zanskar. And how Zanskari people hard work in four season. I show through photos for mam Nana. And mam show foreign people about lifestyle in Zanskar people, and we are proud, when mam Nana say your photo is very nice und buys all foreign people and one day we are very famous for take good photos for landscape, lifestyle, Losar festival and other. Madam learnt how we take photo make it good. In my life photography is one most important subject. Photo show how Zanskar people live different from foreign country.

In evening time when I was go to madam Nana room, it is I like most, because we talk about Zanskar in winter time. How we live and losar festival and we teach about foreign country lifestyle, but it is too much different between Zanskar and other country. Therefore I think Zanskar people is very brave and more powerful than other country. To compered, we regular our duty. Follow time to time. I hope we met in summertime in Leh and Zanskar. Thank you Madam Nana we never forget your kindness. We never forget with each other. Take care your life we prayer for your happy life. And I hope you are very sad to leave Zanskar and photogroup. Stanzin Daskyong

Spielende Kinder

Ein Junge mit Vogel auf dem Kopf

Diesen Brief bekam ich zum Abschied, als ich 2014 Zanskar und das Fotoprojekt Kamerakidz Richtung Delhi verließ. Mir schossen Tränen der Rührung in die Augen. 2011 hatte ich die Kamerakidz gestartet. Ich kam mit sechs gespendeten kleinen Digitalkameras in das entlegene Tal im indischen Himalaya an die Secpad-Schule und fotografierte seitdem jeden Sommer mit den Kindern. Zusammen mit Designer*innen bauten wir Kalender und Postkarten, die wir verkauften. Die Erlöse brachte ich zurück zu den Kindern.

Daskyong ist ein besonderer Junge. Seine Fotos waren nicht bemerkenswert, aber sein soziales Verhalten, sein Humor und seine Auseinandersetzung mit dem Leben waren für mich eine Freude zu beobachten. Ich habe seinen Brief nicht korrigiert. Die Kinder in Zanskar wachsen mit drei Sprachen und vier Schriften auf. Ihr lokaler Dialekt ist Bothi, eine Form des Tibetischen mit gleicher Schrift. Diese braucht es, um auch die buddhistischen Schriften zu lesen.

Eine Frau mit Baby auf dem Rücken

Eine Frau mit Kopftuch vor einer Schafsherde

Urdu ist die Sprache ihres Bundesstaates Jammu und Kashmir. Es ist dem Hindi sehr ähnlich, das praktischerweise gleich mitgelernt wird. Allerdings haben Hindi und Urdu unterschiedliche Schriftzeichen. Und dann ist da noch Englisch, die Nationalsprache von Indien. Mit dem Hintergrund gewinnt der Brief an Achtung. Es kommt auf den Standpunkt an. Genauso wie in der Fotografie.

Ich denke, man kann den Brief verstehen, nur einen Satz möchte ich erläutern: „To compered, we regular our duty“. Damit meint er, dass die Zanskaris ihre Arbeit erledigen, ohne sich zu fragen, ob sie Lust dazu haben oder zu diskutieren, wer sie machen sollte oder ob man es anders machen sollte oder Ähnliches.

Ein verschwommenes Bild in der Dämmerung

Eine Landschaft mit Bergen

Das Projekt nahm seinen Anfang in einer Buchhandlung in Delhi. Da fiel mir vor über zehn Jahren das Buch „I dreamed I had a girl in my pocket“ von Wendy Ewald in die Hände. Das erste Drittel enthielt Portraits der Kinder, fotografiert von Wendy Ewald. Das zweite Drittel zeigte Bilder vom Dorf, ebenfalls von ihr fotografiert. Das dritte Drittel bestand aus Fotos, die die Kinder aufgenommen hatten. Diese fand ich am interessantesten. Und fragte mich, ob es nicht möglich sein würde, ein ganzes Buch ausschließlich mit Fotos, die Kinder machen würden, zu füllen.

Seitdem haben wir zwei Bücher veröffentlicht und das dritte (über eine Mönchsschule in Sikkim) ist in Arbeit. Außerdem gibt es jährliche Kalender, eine immer weiter wachsende Postkartenkollektion, Ausstellungen, Vorträge und natürlich könnte es gern noch mehr sein. Außer meinem Fazit, dass es zeitraubend ist und schwierig, es auf einem akzeptablen finanziellen Level zu halten, bereitet mir das Projekt weiterhin vergnügliche Befriedigung.

Eine verschneite Stadt

Eine Person im Schnee vor einem Haus

Das ganze Projekt hat einen wahnsinnig pädagogischen und theoretischen Hintergrund. Hier will ich nur von einem berichten, dem Gespräch mit Daskyong. Wir gingen mit der Fotogruppe zu einem nahe gelegenen Kloster, einer großen Touristenattraktion im Zanskartal.

Nana: Daskyong, was meinst Du eigentlich, warum die Touristen immer so viele Fotos machen?
Daskyong stutzt, hält inne und sagt: Keine Ahnung.
Nana: Du hast wirklich keine Idee?
Daskyong: Nee, ich weiß nicht, warum die immer fotografieren.
Nana: Findest Du es komisch?
Daskyong: Ja.
Nana: Ich manchmal auch. Einen Touristen ohne Kamera haben wir kaum gesehen, oder?
Daskyong: Nee, noch nie. Jetzt, da Du es sagst, es ist wirklich komisch…
Er lacht und sieht grüblerisch aus, als er weggeht.

Spielende Kinder

Blumen vor einer Berglandschaft

Als ich 2011 den Kindern Kameras in die Hände gab, war es quasi eine Sensation. Damals hatte niemand eine Kamera, auch kein Smartphone. Inzwischen ist das etwas verbreiteter. Dafür kamen Tourist*innen, die unablässig die süßen Kinder, die faltigen Alten, die malerischen Mönche abbildeten. Kein*e Zanskari hatte einen Einfluss darauf, welche Bilder aus der Heimat in die Welt gelangen würden. Die abenteuerlichen Westler*innen, die reichen Inder*nnen, die Tourismusindustrie, sie alle produzierten ein Bild: das Image von Zanskar.

Andere kamen und wollten genau das sehen. Es war ein Klischeebild. Nicht, dass es nicht stimmt, nicht dass die Zanskaris gänzlich unzufrieden damit sind, aber es ist eben nur ein Ausschnitt aus der vielfältigen Lebenswelt.

Ein Bergdorf

Ein Mann auf einer Straße

Ich ließ viele Kinder allein mit den Kameras herumlaufen. Mit einer kleinen Gruppe von sechs Kindern machten wir Ausflüge. Unbezahlbar das freudige Lachen der Erwachsenen, wenn die Kinder die Kameras auf sie richteten. Zum Kichern die erstaunten Gesichter einer indischen Fotogruppe, die sich am Ende der Welt wähnte und gerade hier auf Kinder mit Kameras traf. Mein Herz hüpfte vor Freude bei der Durchsicht von Speicherkarte nach Speicherkarte, die ich in den Laptop steckte und die Bilderwelten der Kinder entdeckte.

Es gab tatsächlich Unterschiede zu sehen. Dawood hatte ein gutes Raum- und Kompositionsgefühl und produzierte gleich ein Knallerfoto. Kunsals Bilder waren oft verunglückt und hatten dabei eine so eigenwillige Poesie, dass es kein Zufall sein konnte. Rikchok hatte einen tollen Draht zu Menschen, seine Portraits stachen heraus. Sandup war auf vielen Bildern selbst drauf, er ließ andauernd die Kleineren mit seiner Kamera fotografieren.

Ein Kind lehnt an einer Glocke vor einer Berglandschaft

Eine Gruppe Kinder springen

Das Faszinierende an Zanskar war damals, dass es so gut wie keine Fotos vor Ort gab. Keine Werbereklamen an den Wänden, keine Zeitungen oder Zeitschriften, Zeichnungen statt Fotos in den Schulbüchern, keine Computer, Laptops, Smartphones. Es gab nur bewegte Bilder in den Fernsehgeräten einiger weniger Familien.

Ich weiß, dass damals niemand in Zanskar gedacht hat, dass das irgendetwas werden würde mit mir und den Kinderfotos. So eine bekloppte Idee. Wieso sollte sich jemand für diese Bilder der Gewöhnlichkeit interessieren, da doch berühmte Fotograf*innen (z. B. Olivier Föllmi) viel besser zu beeindrucken wussten. Aber weil es ja niemandem wehtat, ließ man mich gewähren. Und nach einigen Kalendern, Postkarten und Ausstellungen sowie der Arbeit am Buch „Winter in Zanskar“ merkten sie, dass sie doch etwas zu zeigen hatten. Dass ihr Alltag für andere Leute spannend ist. Dass sie zwar aus der „hinterletzten Ecke Indiens“ kommen, aber dass sie etwas können. Was will ich mehr?

Inzwischen habe ich auch woanders das Projekt Kamerakidz gemacht, aber nirgendwo ist die Geschichte so lang wie die mit Zanskar. Und wir wünschen uns auf jeden Fall weiterhin Käufer*innen unserer Produkte, damit wir den Kindern schön gefüllte Briefumschläge mitbringen können. Andere Formen der Präsentation wie Ausstellungen, Vorträge oder Artikel erfreuen uns ebenfalls.

Ähnliche Artikel